Am folgenden Morgen kam ich nur mit Mühe aus dem Bett. Ich hatte bis zwei Uhr morgens an dem Geschichtsaufsatz gearbeitet und konnte dann wegen des Gesprächs, das ich zwischen Tante und Pater Dominick gehört hatte, kein Auge zutun.
Zum x-ten Mal war ich zu spät und musste auf das Frühstück verzichten. Ich stürzte trotz der Ermahnungen meiner Tante, mich nicht zu überanstrengen, aus dem Haus und erwischte gerade noch den Bus.
Ich hatte noch keinen Fuß in die Klasse gesetzt, als sofort Patty Shue auf mich zukam, gefolgt von ihren beiden Freundinnen, Claire und Martha, wobei sie ihre sinnlichen Hüften wiegte, die durch einen atemberaubenden Minirock noch betont wurden, und ihre dicken, scharlachroten Lippen zu einem schelmischen und gehässigen Schmollmund verzog.
„ Vera, sag, wie geht es dir heute? Erwartest du irgendwelche Ohnmachtsanfälle? Nun, falls du ohnmächtig werden solltest, wissen wir, wen wir rufen müssen. Ich bin sicher, Ron würde nicht zögern, dir mit einer Mund-zu-Mund-Beatmung zu helfen! Vor allem nach seinem Nachhilfeunterricht, dann wirst du es sicher dringend brauchen", grinste die Hexe.
Das mit Ron und mir hatte sich also bereits herumgesprochen.
Wer anders als er hätte mich vor allen anderen so erniedrigen können?
Zum Glück hatte ich gerade eine Hämodose zu mir genommen, so dass ich ausgezeichnet sehen konnte.
Blitzschnell suchte mein vernichtender Blick den Schuldigen.
Da war er!
Ron saß ruhig an seinem Schreibtisch und kopierte Zeichnungen auf ein Blatt Papier.
Ich ging zu ihm.
„ Ron“ sagte ich mit meinem eisigsten Tonfall.
„ Hallo Vera. Sieh mal einer an, ich habe gerade an dich gedacht.“
„ Oh, ja?“
Natürlich, nach dem, was er angerichtet hatte!
„ Ja, ich habe gerade einige einfache Übungen für dich auf dieses Blatt geschrieben. So können wir sie, wenn wir uns das erste Mal treffen, miteinander durchsehen. Auch morgen, wenn du willst. Hier musst du zum Beispiel aufschreiben, wie die verschiedenen Körperteile heißen, die ich für dich gezeichnet habe“, er war ganz aufgeregt und zeigte mir das Blatt.
Ich war fassungslos. War es möglich, dass er gar nicht merkte, was er angerichtet hatte?
Vor diesem Abend hätte jeder gedacht, dass Ron, der den Spitznamen „Fauler Atem“ hatte, und ich zusammen waren.
Ohne Zweifel konnte ich mich für all das bei Patty bedanken.
Ich wusste nicht, wann und wie, aber nach dem Unterricht am Morgen versammelten sich alle in der Cafeteria, wo großer Lärm herrschte.
Am Nachmittag begannen die ersten Blicke und das Grinsen.
Im Bus nach Hause war ich den umlaufenden Gerüchten zufolge bereits seit einem Monat mit Ron verlobt.
Noch ein bisschen länger und sie würden Plakate aufhängen: „Die Love Story zwischen der blassen Vera und Fauler Atem."
Ich war angewidert.
Als ich nach Hause kam, traf ich auf Tante Cecilia, die ihre Haare in einen weichen goldenen Zopf gebunden hatte und eine riesige grüne Schürze trug, da sie vorhatte, Tomatensauce für den Winter einzumachen.
Ich schleuderte ärgerlich die Schuhe von meinen Füßen und warf den Rucksack auf den Boden, bevor ich zu meiner Tante lief und sie mit meinen Problemen überschüttete.
„ Da muss erst einmal Brot mit Honig her“, meinte sie, als sie merkte, wie viel Hass in meiner Stimme war, als ich von Patty und Ron berichtete.
„ Du glaubst doch wohl nicht, dass ich mir von diesem Idioten Nachhilfeunterricht geben lasse?“ platzte ich heraus.
In der Zwischenzeit bereitete meine Tante mir das Brot zu.
„ Iss, dann beruhigst du dich“ sie reichte mir das Stück Brot und ignorierte meine Worte.
Ich schlang das Brot hinunter, wobei es weiter aus mir hervorsprudelte und ich hier und dort ein paar Krümel ausspuckte. Trotzdem beruhigte ich mich am Ende. Das war der Honig. Der Geschmack des Honigs hatte schon immer eine beruhigende Wirkung auf mich ausgeübt, wenn ich unruhig oder ärgerlich war.
„ Danke“ murmelte ich zum Schluss.
„ Gut, a du jetzt also einen kleinen Imbiss zu dir genommen hast und dich ausgesprochen hast empfehle ich dir, in dein Zimmer zu gehen und Biologie zu lernen, wenn du willst, dass ich es mir wegen der Nachhilfestunden mit Ron anders überlege,“ bestimmte Tante Cecilia.
„ Oh, danke!“
Ich umarmte sie stürmisch. Ich wusste, dass sie mich verstanden hätte!
„ Du bist meine Lieblingstante!“ fügte ich hinzu.
„ Natürlich, ich bin ja auch deine einzige Tante“.
Wir brachen beide in Lachen aus und danach beeilte ich mich, mit dem Lernen anzufangen.
Ich nahm mir fest vor, meinen Durchschnitt in den wissenschaftlichen Fächern zu verbessern. Drei Tage lang büffelte ich ununterbrochen und meldete mich dann zum Abfragen.
Sieben.
Diese Note reichte, um meine Tante davon zu überzeugen, den Nachhilfeunterricht bei Ron wieder abzusagen.
Ich war im siebten Himmel.
Es war mir egal, ob Ron deshalb beleidigt war, weil er sich abgewiesen vorkam. Als wenn wir wirklich zusammen wären.
Auch Patty war es nicht recht, weil meine Love-Story mit Fauler Atem immer uninteressanter wurde und am Ende völlig zum Erliegen kam.
Eines Tages, als ich aus der Schule kam, lief ich wie üblich durch das Tor, das seit einigen Tagen mehr als üblich quietschte, und schritt auf das Haus zu.
„ Ich muss es ölen“, sagte mir Ahmed, wobei er das Tor meinte, während er nicht weit von mir ein Stück Zaun reparierte.
„ Hallo Ahmed. Wie geht es?“, fragte ich ihn.
„ Heute scheint die Sonne, also geht es mir gut,“ antwortete er mir.
Ich lächelte ihm verständnisvoll zu.
„ Ich mache das Stück hier eben fertig und gehe dann Besorgungen machen,“ fügte er hinzu.
„ Kann ich mitkommen?“
Wenn die Sonne schien konnte man einfach nicht zu Hause bleiben und lernen.
„ Lieber nicht. Pater August ist eben gekommen und ich glaube, er möchte dich sehen,“ antwortete er mir und entfernte sich mit ein paar Brettern in der Hand.
Pater August, dieser alte verkrüppelte Zwerg mit dem bösen Blick.
Weder ich noch meine Tante mochten ihn, trotzdem kam er uns einmal im Monat besuchen.
Tante Cecilia erklärte mir, dass Pater August eigentlich ein netter Mensch war und ihr sehr geholfen hatte, als ich klein war.
Er ihr bei den entstandenen Arztkosten geholfen, als bei mir diese schreckliche Anämie diagnostiziert wurde, so dass er hier immer willkommen war, obwohl er für mich wie eine schleimige und verachtenswerte Kreatur aussah.
Widerwillig betrat ich das Haus.
Meine Tante und Pater August saßen im Wohnzimmer auf dem Sofa und tranken Kaffee.
„ Liebling, da bist du ja,“ begrüßte mich meine Tante so freundlich wie immer, obwohl ich sofort die Nervosität in ihrer Stimme spürte.
„ Hallo Tante.