„Ich musste so oft an Dr. Korczak denken. Ich hatte seine ganzen Kinderbücher gelesen und einige seiner psychologischen Arbeiten. Als Kind und Teenager war ich wirklich total in seinem Bann. Das alles war einfach unfassbar.“
Ein weiteres Manuskript wird ins Haus geschmuggelt: Der Augenzeugenbericht eines polnischen Juden, der den Aufstand im Vernichtungslager Treblinka im August 1943 überlebt. Sofort nach seiner Flucht aus dem Lager – unter dem unmittelbaren Eindruck der Erlebnisse – schreibt Jankiel Wiernik auf, was er gesehen und erlebt hat. Wiernik ist Zeuge an dem Mord an etwa 700.000 Menschen geworden, und in der Monografie „Ein Jahr in Treblinka“ beschreibt er, nüchtern und ungeschönt, die Hölle des Lagers. Der Bericht ist grauenvoll, Maria ist entsetzt.
„Ich las unter anderem von einem namenlosen Mädchen, das sich auf einen SS-Wachmann geworfen hat, und das auf der Stelle erschossen wurde. Ich habe mir gewünscht und mich schließlich selbst davon überzeugt, dass das Irma war.“
An einem Frühlingstag im Jahr 1943 wird die Gegend um Kobyłka von den Deutschen durchkämmt. Sie stürmen in jedes Haus. Vitek, Inka, Julek und Marek haben nur Sekunden, um in ihr Versteck im Keller zu verschwinden.
„Die Deutschen kamen mehrmals ins Haus, sie schauten in jede Ecke, unter die Betten, in die Schränke. Wir waren paralysiert vor Angst. Noch in der gleichen Nacht sind meine Tante Olga und ich losgegangen, um von irgendeinem Dorfbewohner ein Kaninchen zu bekommen. Nachdem wir an Hunderte von Türen geklopft hatten, verkaufte uns tatsächlich jemand zwei Kaninchen. Die haben wir dann sofort in den Käfig gesteckt, der im Keller vor dem Versteck stand.“
Im April 1943 können Maria und ihre Familie Rauchwolken aus der Ferne über Warschau sehen – es ist der Beginn des Aufstands im Warschauer Ghetto. Maria ist unruhig und ängstlich.
„Das Ghetto brannte. Meine Familie wollte mich zurückhalten, aber ich bin trotzdem nach Warschau gefahren. Ich musste selbst sehen, was dort passiert. Es war Ostern, und gleich neben der Ghettomauer war ein Volksfest mit Karussells und Schießbuden. Die Leute hatten ihren Spaß, sie lachten, und es spielte laute Musik. Und zur gleichen Zeit konnte man Häuser im Ghetto brennen sehen und Menschen, die aus den Häusern sprangen.“
Jeden Tag sehen Maria und ihre Familie von ihrem Haus in Kobyłka aus den dicken, schwarzen Rauch über dem Warschauer Ghetto.
„Aber das Thema wurde nicht erwähnt. Es war wie ein stillschweigendes Übereinkommen: Man spricht nicht über den Tod in Anwesenheit eines sterbenden Patienten. Ich habe natürlich die ganze Zeit an meine Freundinnen gedacht – die Freundinnen, die ich im Stich gelassen hatte.“
Mitte Mai ist das Ghetto bis auf den Grund niedergebrannt. „Und ich dachte, das Ghetto hat sich gegenüber den Deutschen länger verteidigt als Polen, Frankreich und der ganze Kontinent.“
Sechs Wochen nach ihrem ersten Besuch kehrt Maria zum Ghetto zurück und sieht nur noch Ruinen. „Das Haus, in dem Irma und ihre Familie gelebt hatten, stand eigentümlicher Weise noch – vermutlich weil es so dicht an der Mauer war. Ich ging rein und suchte nach irgendeinem Zeichen von Irma, aber natürlich fand ich nichts.“
Marias Familie lebt nun seit eineinhalb Jahren im Versteck. „Wir stritten uns oft, meist über dumme und wirklich kleine Sachen. Tatsache war, dass wir nun schon viel zu lange auf viel zu kleinem Raum zusammen waren.“ Lethargie, Angst und Depression setzen ein. Als sich die sowjetischen Truppen Warschau nähern, kommen Gerüchte auf, dass die Deutschen die gesamte polnische Bevölkerung evakuieren will.
„Ich bekam jetzt wirklich Angst, dass ich das Ende des Krieges nicht mehr erleben würde. Vitek, sonst der große Geschichtenerzähler, wurde still, und seine Augen merkwürdig dunkel. Er hatte irgendwelche Kapseln zum Schlucken organisiert, falls die Deutschen kommen. Ich habe eine Menge über den Tod nachgedacht – und dabei wollte ich doch so gerne leben. Ich wollte mehr lernen, mehr über die Welt erfahren, ich wollte mit meinem Liebsten spazieren gehen, und ich wollte frei sein.“
Es ist Sommer 1944, als die Rote Armee Warschau erreicht.
„Wir haben angefangen, Hoffnung zu schöpfen, wir fühlten, dass das Kriegsende nahe war. Aber dann lasen wir in der Untergrundpresse von der Befreiung des Konzentrations- und Vernichtungslagers Majdanek und von den schrecklichen Verbrechen, die dort verübt worden waren. Nun bekamen wir eine entsetzliche Angst davor, was die Deutschen auf ihrem Rückzug alles mit uns machen würden.“
Am 1. August beginnt die Armia Krajowa ihren Aufstand gegen die deutsche Besatzungsmacht. Die Kämpfe sind erbittert.
„Von unserem Dachboden aus konnten wir Rauch über Warschau sehen und das Licht von dem Artilleriebeschuss erhellte unsere Zimmer. Einmal landete sogar eine Granate in unserem Dachboden, aber zum Glück explodierte sie nicht. Und dann sahen wir in der Ferne auch all die Menschen, die unter deutscher Bewachung aus Warschau getrieben wurden – Erwachsene, Kinder, Hunde, Kühe – alles war in Bewegung.“
Die Deutschen kommen auch nach Kobyłka.
„Da war ein Hämmern an der Tür, und deutsche Soldaten schrien: raus, raus! Sie hielten uns ihre Gewehre vor die Nase und sagten, wir würden vor den nahenden Russen evakuiert werden. Sie gaben uns keine Minute Zeit – wir mussten sofort mitkommen. Sie trieben uns aus dem Haus – und wir mussten Inka, Vitek, Julek und Marek allein im Keller zurücklassen.“
Die SS-Verbände, die eigens vom Reichsführer-SS Heinrich Himmler zur Zerschlagung Warschaus zusammengestellt worden waren, evakuieren das ganze Dorf, plündern und brennen Häuser ab. Nach einem Tagesmarsch gelingt es Maria, ihrer Schwester, Mutter und Tante bei Dunkelheit, sich von dem Strom der Flüchtlinge unerkannt abzusondern und nach Hause zurückzukehren. Das Haus ist schwer demoliert, aber nicht abgebrannt. Die vier versteckten Juden im Keller sind wie durch ein Wunder am Leben. Mitte Januar 1945 rollen sowjetische Panzer in Kobyłka ein.
„Nun waren wir also frei. Ich habe geweint und mich gewundert, dass ich so traurig bin. Meine Mutter sagte, sie wolle den ersten russischen Soldaten küssen, den sie sieht, rannte auf einen jungen Offizier zu, küsste ihn und dankte ihm. Vitek und die anderen trauten sich zunächst nicht aus ihrem Versteck – aus Angst, dass die Deutschen zurückkommen könnten. Schließlich kamen sie aber doch. Vitek ließ sich auf den Boden fallen und weinte, und der dreizehnjährige Marek, der ja die vergangenen drei Jahre keine einzige Möglichkeit gehabt hatte, seine Beine zu bewegen, sprang glücklich auf der Straße herum.“
Die Familie kehrt nach Łódź zurück, Maria und Julek heiraten – diesmal offiziell – und zwei Jahre später wird Sohn Joe geboren. Im Juli 1946 kommt es zu einem Ausbruch von Gewalt gegen Juden in Kielce, einer polnischen Stadt 130 Kilometer südöstlich von Łódź, der mit dem Tod von 42 jüdischen Frauen, Männern und Kindern endet – mit Bajonetten erstochen, erschossen, erschlagen oder gesteinigt. Dies ist der Moment, in dem das junge Paar entscheidet, dass es nicht in Polen bleiben will. Zum Glück hat Julek entfernte Verwandte in Australien. Zwei Cousinen von Juleks Mutter, denen es gelungen war, kurz vor Ausbruch des Krieges nach Australien zu emigrieren, schicken Visa für Julek, Maria und Joe. Trotzdem ist es schwer, den Reisepass von den polnischen Behörden zu bekommen.
„Wir mussten Millionen von Dokumenten und Papieren bei irgendeinem Ministerium in Warschau einreichen. Dann mussten wir von jedem Gegenstand, den wir mitnehmen wollten, eine Fotografie machen, unsere Bücher mit Autor, Titel, Erscheinungsjahr und Verlag auflisten – und wir mussten bestechen.“
Im Dezember 1947, in einem sehr kalten Winter, verlassen sie Polen und müssen in Frankreich ein Jahr auf ihre Weiterreise nach Australien warten.
„Das war eine gut angelegte Zeit. Ich hatte schon immer nach Paris reisen wollen, wo mein Vater studiert hatte.