So weit wie möglich weg von hier. Hannah Miska. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Hannah Miska
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Историческая литература
Год издания: 0
isbn: 9783954624324
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Familie beschließt, für den Fall einer Hausdurchsuchung ein Versteck im Keller zu bauen. Vitek, von Haus aus Ingenieur, zeichnet einen Plan, Maria und Julek beginnen mit der Arbeit.

      „Das Ziel war, eine Mauer zu durchbrechen und einen Bunker unter der rückwärtigen Terrasse zu machen mit einem Fluchtweg in den Garten. Um den Lärm möglichst gering zu halten, haben wir den Mörtel um die Ziegelsteine herum mit scharfen Nägeln abgekratzt – das war harte Arbeit. Juleks Hände waren völlig aufgeschnitten und bluteten, aber es machte uns nichts, wir waren nämlich ineinander verliebt.“ Maria lacht und fährt fort: „Ehrlich gesagt waren wir sogar froh, dass wir im Keller arbeiten konnten, weil wir da nämlich unter uns waren.“

      Die beiden Verliebten wollen mehr als heimliche Küsse, also fragt die rebellische Maria ihre Mutter, ob sie und Julek zusammen schlafen können. Lidia ist nicht erfreut und meint, dass ihre achtzehnjährige Tochter bis zum Ende des Krieges warten sollte, um sich ihrer Gefühle auch wirklich sicher zu sein. Aber als Julek schließlich offiziell bei Lidia um die Hand ihrer Tochter anhält, gibt sie nach.

      „Meine Mutter zauberte eine Flasche Wodka auf den Tisch, und die Familie erklärte, dass wir verheiratet seien und von nun an auf dem Sofa im Wohnzimmer schlafen dürften.“

      Währenddessen wird Genia, die noch in Warschau lebt, von Juden-Jägern in ihrer Wohnung aufgespürt und, nachdem sie kein Geld bezahlt, übel zugerichtet. Nach diesem Vorfall ziehen auch Marias Mutter und Schwester nach Kobyłka.

      „Jetzt waren wir neun im Haus. Ich werde nie erfahren, ob Onkel Jerzy wusste, dass die ganze Familie im Haus lebt. Wenn er es wusste, hat er jedenfalls nie ein Wort gesagt.“

      Maria und Julek bauen nun mit doppelter Kraft an dem Versteck im Keller.

      „Wir haben oft Geschichten gehört von Leuten, die im Versteck lebten und denunziert worden waren. Und wenn man sie fand, gab es immer nur ein Ergebnis: den sicheren Tod.“

      Es gelingt den beiden, einen schmalen Gang im Keller zu graben.

      „Wir haben dabei eine Menge Sand herausgeholt, den haben wir im Garten herumgestreut, so, dass die Nachbarn nichts merkten. Julek hat dann Onkel Jerzys Weinregale benutzt, um einen Kaninchenstall zu bauen. Den wollten wir vor den Eingang des Verstecks stellen, um für den Fall des Falles die deutschen Schäferhunde zu täuschen.“

      Nachdem Marias Onkel Jerzy Zmigrodzki stirbt, ist das Haus – für Außenstehende – ein Vier-Frauen-Haushalt. Vitek, Inka, Julek und Marek leben nach wie vor versteckt und können das Haus nicht verlassen.

      Olga wird von einem Nachbarn angesprochen, der sie gut kennt. Er eröffnet ihr, dass er für die Armia Krajowa (AK) arbeite, die größte polnische Untergrundbewegung, und bittet Olga um Unterstützung. Die etwa 400.000 Untergrundkämpfer der Armia Krajowa sabotieren deutsche Züge, die in den Osten fahren, sprengen Brücken, befreien Gefangene und Geiseln, liefern sich Kämpfe mit Einheiten der Polizei und Wehrmacht und liefern wichtige militärische Informationen an die Alliierten. Jeder Untergrundkämpfer, der in die Hände der Deutschen gerät, wird unweigerlich exekutiert.

      „Ich erinnere mich, dass wir mit dem Nachbarn bei einer Flasche Wodka zusammengesessen haben und dass der Nachbar meine Mutter und meine Tante fragte, ob er unser Haus als Radiostation benutzen könne, um täglich Nachrichten an die polnische Exilregierung in London zu senden. Diese Idee wurde zwar schnell von den beiden Frauen verworfen, aber die Begeisterung, anderweitig zu helfen, war groß. Und so fingen meine Mutter und meine Tante an, Dokumente und Waffen im Keller zu verstecken. Ich habe mich mit dieser Idee überhaupt nicht wohl gefühlt, aber Mutter und Tante waren nicht zu bremsen.“

      Eines Tages fahren Maria und ihre Mutter nach Warschau, um Lebensmittel zu besorgen und neue Bücher aus der Bibliothek zu holen. Die Bücher sind besonders wichtig für die Familienmitglieder, die das Haus nicht verlassen dürfen. Es ist eine von vielen Zugfahrten zwischen Kobyłka und Warschau. Diesmal jedoch ist es anders.

      „Der Zug war brechend voll und voller Soldaten. Meiner Mutter und mir wurde ein Sitzplatz angeboten im ‚Nur für Deutsche‘-Abteil. Soldaten erzählten und lachten und alles war gut – bis ich plötzlich eine Stimme sagen hörte: ‚Ich weiß, du bist eine Jüdin.‘ Erst langsam, dann schneller und lauter, und fast einfallend mit dem Rhythmus des Zuges, wiederholte die Stimme. ‚Ich weiß, ich weiß, du bist Jüdin.‘“

      Maria ist gemeint. Es ist eine gezielte Denunziation.

      „Ich habe ganz still gesessen und wusste nicht, was ich machen sollte, bis meine Mutter eingriff.“

      Lidia Markus protestiert, erklärt, dass Maria ihre Tochter sei und nicht irgendeine Jüdin, die vom Zug abgesprungen sei, wie der Denunziant behauptet, und zeigt ihre Kennkarten. Es hilft nichts. Als der Zug in Warschau hält, ruft der Denunziant die Polizei und bittet sie, Maria und ihre Mutter zur Gestapo-Zentrale zu bringen.

      „Und so haben uns sechs Gendarmen zur Gestapo gebracht: Zwei liefen vor uns, zwei hinter uns und zwei an der Seite. Ich nahm mir fest vor, nicht zu weinen, aber ich hatte eine entsetzliche Angst. Würden die mich fragen, wo ich die letzte Nacht geschlafen habe? Würde ich dann stark genug sein, Tante Olgas Adresse nicht zu verraten? Würden die mich foltern? Ich hatte so meine Zweifel, ob ich dann meinen Mund halten könnte. Würden sie vielleicht meine Mutter bedrohen? Das waren so meine Gedanken. Aber vor allem dachte ich: Ich will nicht sterben.“

      Die Gestapo-Zentrale ist eines der am meisten gefürchteten Gebäude Warschaus. Es ist bekannt, dass hier brutale Verhöre stattfinden, dass hier geschlagen, gefoltert und gemordet wird.

      „Wir mussten eine Treppe nach oben gehen, und mir ging durch den Kopf: Komisch, und ich dachte immer, die Gestapo sei im Keller. Die Treppenstufen glänzten, der lange Flur glänzte, jemand öffnete eine Tür, und vor uns standen drei Gestapo-Leute in schwarzen Uniformen. Und an der Wand war ein riesiges Porträt von Hitler. Während meine Mutter unsere Kennkarten vorzeigte, dachte ich immerzu: Bitte, bitte, lass mich stark sein und mich nicht die Menschen verraten, die ich so sehr liebe.“

      Einer der Gestapo-Männer inspiziert die Kennkarten, legt sie auf eine Glasplatte und beleuchtet sie.

      „Und dann, plötzlich, brach dieser Mann, der offenbar der Vorgesetzte war, in offenes Gelächter aus und sagte: ‚Blonde Haare, blaue Augen, helle Haut und ordentliche Papiere – was für ein netter Scherz so früh am Morgen. Sie sind frei, Sie dürfen gehen. Heil Hitler.‘ Und dann liefen wir also zurück durch diesen Flur, und ich wollte nichts anderes als den nächsten Zug nach Hause nehmen. Ich war in totaler Panik, dass mich nun jedermann als Jüdin erkennen würde. Aber meine Mutter beruhigte mich, meinte, dass alles in Ordnung sei, und sie bestand darauf, dass wir uns nun genauso wie immer verhalten – also einkaufen und Bücher aus der Bibliothek holen. Natürlich konnte sie mich nicht zum Narren halten. Ich wusste, dass das nur Vorsichtsmaßnahmen waren, um sicherzugehen, dass uns niemand folgte.“

      Maria kann das Gelächter des Gestapo-Mannes für lange Zeit nicht vergessen. Von nun an ist sie von den Zugfahrten nach Warschau befreit, Tante Olga springt ein. Lidia und Olga verbinden ihre Zugfahrten nach Warschau mit ihren patriotischen Pflichten für die AK. Die achtzehnjährige Maria zieht sich zurück und denkt viel darüber nach, was passiert ist.

      „Wieso haben die mich laufen lassen? Nicht, weil ich irgendetwas Tolles oder Heroisches vollbracht hätte. Nein – nur weil ein Gestapo-Mann das Ganze als Witz betrachtete. Und weil ich mit meiner Mutter zusammen war. Meine Mutter war bildschön und hatte diese typischen slawischen Gesichtszüge. Niemand, nicht mal die Gestapo, konnte ernsthaft annehmen, dass sie Jüdin sei. Ja, dachte ich, meine Mutter war mutig, aber es war ja auch leicht für sie, mutig zu sein mit ihrem blonden Haar und ihren blauen Augen. Jüdische Mütter konnten ihre Töchter jedenfalls nicht retten, obwohl sie genauso mutig waren. Ich fand das unfair.“

      Maria hält einen Moment inne. „Ich weiß nicht, ob das irgendjemand verstehen kann, was ich jetzt sage, aber ich habe meiner Mutter das arische Aussehen fast übel genommen.“

      Olga und Lidia bringen das „Biuletyn Informacyjny“ nach Hause, das offizielle Presseorgan