Fahlmann. Christopher Ecker. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Christopher Ecker
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Современная зарубежная литература
Год издания: 0
isbn: 9783954620906
Скачать книгу
hellt sich erst auf, als Professor Capart keift: «Ich darf auf gar keinen Fall vergessen, Fahlmann durch die Magisterprüfung fallen zu lassen. Erinnern Sie mich gegebenenfalls daran, Polkinger, und stellen Sie endlich den Kleiderständer dahin, wo er hingehört! Wir sind hier doch nicht zu Besuch bei Arno Schmidt in Bargfeld!»

      Caparts Assistent öffnete die Augen, ich senkte den Blick ins Buch, über dessen Seiten kleine, fast quadratische Textflöße schwammen. Warum er? Warum ausgerechnet er? Norbert Polkinger war einer dieser Wichtigtuer, die in der Mensa extralaut redeten, damit man noch drei Tische weiter ihren Scharfsinn und ihre Belesenheit andächtig zur Kenntnis nahm. In Seminarsitzungen führte er Adorno und Horkheimer im Munde, um sich bei seinem Doktorvater einzuschmeicheln, und hatte dabei stets (ein liebenswertes Detail) die Finger gespreizt, weil er an einer Hautflechte litt, die besonders gut in jenen feuchtwarmen Regionen des Körpers gedeiht, wo keine Frischluftzirkulation gewährleistet ist. Polkinger! Irgendwann bist du dran! Einen Ehrenplatz, ja, man könnte fast sagen, einen Logenplatz auf der Schwarzen Liste hatte ihm vor allem das gönnerhaft herablassende Verhalten eingebracht, das er mir gegenüber an den Tag legte. Vor Dritten betonte er unablässig, für wie überaus «begabt» und «talentiert» er mich halte, und begrüßte mich stets mit einem vermutlich ironisch gemeinten: «Na, wie gehts denn dem Herrn Dichter!» – in meinen Augen eine subtile Beleidigung. Dichter! Sofort sah ich einen verträumten blutarmen Schwärmer vor mir, der mit Leidensmiene über eine Blumenwiese schreitet. Im Gegensatz zum Poeten, einem ausgemergelten Stubengelehrten, der alles mit dem Mond vergleicht, hat der Dichter einen Degen umgegürtet; aber eine Frau bekommt trotzdem keiner von beiden ab. Autor: ein nichtssagendes, konnotationsarmes Wort, allerdings tausendmal besser als die freche Verhöhnung Buchautor, die bei Fernsehshows eingeblendet wird, wenn Oma Kruse einem staunenden Moderator ihren Klimakterialreiseführer vorstellt. Schriftsteller klang in meinen Ohren relativ harmlos.

       Schriftsteller leben im Winter in den nostalgischen Pensionen britischer Seebäder, und alle Gäste tun so, als fürchteten sie unsäglich, in dem Großen Roman verewigt zu werden, an dem der charmante Gesellschafter nachts arbeitet, wenn er sich nach einem letzten Gläschen Portwein auf sein Zimmer zurück gezogen hat. Erzähler gefiel mir eigentlich am besten, aber da ich einen Gedichtband veröffentlicht hatte, trat ich heute als Lyriker auf. Treten Sie näher! Treten Sie heran! Hier sehen Sie die Praxis des Lyrikers, Tür an Tür mit einem armenischen Gynäkologen, und während dieser seinen buschigen Schnauzer zwischen den gespreizten Schenkeln einer rassigen Französin versenkt, hört man nebenan Wasser rauschen und zaghaftes Gezupfe auf der verstimmten Leier; dann wird es still (bis auf das Stöhnen von Valerie), denn der Lyriker hat sich im Badezimmer eingeschlossen, um seinen Namen in Wasser zu schreiben. Als Kinder hatten wir uns gegenseitig zu übertrumpfen versucht. Wir riefen: «Erster!», riefen: «Schnellster!», und behauptete einer, «Bester Tormann!» oder «Bester Kletterer!» zu sein, stach ihn nur ein Ausruf aus: ein unschlagbares, ein unbesiegbares, ein ultimatives «Bester Alles!» Polkinger hält mich bestimmt nicht für den Besten Alles. Distanz! Ich darf nicht so begeistert lesen. Ich muss wesentlich distanzierter klingen. Der Beste Alles gab sich von nun an redlich Mühe, und prompt erklärte Professor Capart dem anerkennend nickenden Adorno: «Georg Fahlmann karikiert ironisch den Literaturbetrieb. Eine Ausnahmebegabung. Ich werde ihn die Magisterprüfung bestehen lassen, auch wenn er nichts weiß, haha, ich geb ihm sogar ne Eins, wenn er einen Chiasmus mit einem, ach, Sie wissen schon, verwechselt.» Zwo, drei, vier …

      oberst viss im nacken

       nack-tack-tack so dunkel

       zwei flaschen brause &

       komm mal mit mein kleines

       eulenkidnapping im schmackelwald

       oh, nein, peter vogel!

      Wie konnte ein Erwachsener solche Gedichte lesen oder hören, nack-tack-tack so dunkel, ohne den Verfasser für einen totalen Blödian zu halten? Draußen wurde es tatsächlich dunkel, nack-tack-tack, ich knipste die Lampe an und badete das zitternde Buch im Lichtsee. Jens hätte Spaß an der Lesung gehabt. Wahrscheinlich feilschte er gerade mit Mutter, wie lange er noch aufbleiben durfte. Und Susanne? Was sie wohl gerade – nein darüber darf ich nicht nachdenken! Webspitzeinsatz. Nicht jetzt! Wäre Jens hier, er hätte jedenfalls seinen Spaß. Und wahrscheinlich all seine Freunde …

      oma kruse und h. c. knolle

       im kurhotel «thoelke»

       und brühwarm im oberstübchen

       shaffery & genossen

       duseln nattern durch krummbüsche

       krebsen nacktschnecken den hang hoch

       plätten maulwurfshügel maulwurfshügel

       heh, kellner! mehr zucker!

       kaffeetasse johann zirpt im kaltbach

       – armer johann

      Sprach ich «Thoelke» aus, wie es Wum tat, der heimliche Held meiner Kindheit, waren mir einige zaghafte Lacher sicher. Aber um welchen Preis! Der Lederjackenknarzer sprang vom Sitz, riss einen Fotoapparat in die Höhe, hüllte mein Gesicht in ein Blitzlichtinferno und verließ den Raum auf quietschenden Gummisohlen. Alle sahen ihm nach. Alle bis auf Großvater. Der sah mich an. Aber das merkte ich erst, nachdem ich Inge lange angesehen hatte. Ich spürte, wie ich rot wurde. Die Quietschsohlen schlossen die Tür von außen. Übermorgen würden mir zwei bis drei Textsäulen verraten (auf denen das grobgerasterte Tympanon meines verdutzten Gesichts thronte), ich sei ein «Klangkünstler», ein «Wortartist» – etwas anderes fiel den Ärschen nicht ein! Natürlich beruhigte es mich, dass keiner merkte, was für einen Unfug ich hier zum Besten gab, aber irgendwie kränkte es auch mein Selbstverständnis als Schriftsteller – für den Bruchteil einer Sekunde flaniere ich die Strandpromenade eines britischen Seebades entlang. Noch einmal zum Mitschreiben: Einerseits genoss ich es, öffentlich lesen zu dürfen und sogar Geld dafür zu bekommen, andererseits hasste ich es, das öffentlich zu lesen, was ich lesen musste: kurhotel «thoelke» und Konsorten. Und noch einmal zum Auswendiglernen: Selbstverständlich erfüllte es mich mit Stolz und Genugtuung, dass man mich für einen Schriftsteller (Seebad! Seebad!) hielt, aber doch nicht wegen eulenkidnapping im schmackelwald! Die ganze Chose wird noch vertrackter, wenn man bedenkt, dass meine guten Texte allesamt ungelesen zurückkamen. Schickte ich sie an einen Verlag, wartete ich monatelang auf Post. Das Warten machte mich derart wahnsinnig, dass ich die Absagen regelrecht herbeisehnte. Ja, Sie haben richtig gehört! Ich hoffte auf Absagen, damit diese dem fürchterlichen Warten ein Ende bereiteten. Einmal hatte ich ein Haar von Susanne ins Manuskript gelegt, und als es zurückkam, lag das Haar noch immer zwischen den Seiten zehn und elf. Formbriefe!

       Ich bekam fast nur Formbriefe. Seltener, aber das war weitaus schlimmer, lag ein persönliches Anschreiben bei. Die Schwäche Ihrer Erzählungen ist, dass sie zu schwer beladen sind. Wie viele junge Debütanten bemühen Sie sich … der Text scheint mir über weite Strecken hinweg sprachlich noch nicht ausgereift … leider sehen wir keine Möglichkeit … haben Sie vielen Dank für Ihr Angebot. Wir haben Ihr Manuskript sorgfältig geprüft, konnten uns aber leider … Reibekäse … wünschen Ihnen in einem anderen Verlag den erhofften Erfolg … entschuldigen Sie die späte Antwort … passt nicht ins Programm … habe Ihr Manuskript selbstverständlich gründlichst gelesen … bitte Sie um Verständnis, dass ich bei der großen Anzahl von Einsendungen … Reibekäse, Reibekäse, Reibekäse … in anrührender Unbeholfenheit versuchen die kreisrunden Glasabdrücke die olympischen Ringe nachzubilden … Molli knallt zwei Humpen auf den Kneipentisch … über einen Zeitraum von eineinhalb Wochen hatten Achim und ich ein ganzes Notizbuch vollgesaut. Die Mehrzahl der Einträge war beschämend pubertär, aber einiges schien mir hinreichend witzig zu sein, also überarbeitete ich die Texte und tippte sie ab. Achim bekam eine Kopie zum Geburtstag, dann verlor ich das Interesse an den Gedichten, die sich daraufhin, lichtscheu, wie unernste Gedichte nun einmal sind, in den letzten Winkel der Nachttischschublade zurückzogen. Ich verlor das Interesse, bis ich eines Abends die Originale kurzentschlossen in einen Umschlag stopfte und mit einem größenwahnsinnigen Begleitbrief an den elitärsten Verlag schickte, der mir in den Sinn kam. Brächte Achim das Gespräch auf unsere Scherzgedichte, könnte ich nun amüsiert behaupten: «Die Gedichte? Achim, du glaubst es nicht! Die hab ich an einen Verlag geschickt, und die Dümmlinge haben alles für bare Münze