Kaum ausgesprochen, bekreuzigten sich die meisten der vor der Kirche ausharrenden Menschen. Denn mit dem, was sie soeben gehört hatten, konnten sie nicht nur nichts anfangen, es ängstigte sie sogar. Rechnen war den meisten von ihnen noch fremder als Lesen und Schreiben.
»Das ist Teufelswerk«, flüsterte einer seinem Nachbarn zu, während ein anderer zu der Feststellung gelangte, dass der Bau dieser Kirche vielleicht doch unter keinem guten Stern stehe.
»Beruhigt euch!«, fuhr der Bischof, der die aufkommende Unruhe außerhalb der Kirche bemerkt hatte, harsch dazwischen. Er wusste, dass lediglich der Graf, dessen Gemahlin und vielleicht ein paar andere hochrangige Gäste etwas von dem verstanden, was er soeben von sich gegeben hatte. Also versuchte er, die beiden Inhalte auf dem Amulett so einfach wie möglich zu erklären: »Es handelt sich nicht um Teufelswerk, sondern um Arithmetik, eine der sieben freien Künste! Die ›artes liberales‹ …« Als er merkte, dass er nun auch noch weltliches Latein zu sprechen begonnen hatte, anstatt die Sache vereinfacht zu haben, hüstelte er verlegen und wechselte zu einer anderen Erklärung über: »Keine Sorge: Die Fünfzehn ist lediglich eine ›Mondzahl‹, die den Tag der vollen Rundungen des Mondes benennt! Diese magische Zahl bekam ihre Bedeutung, weil es sich um eine dreifache Fünf handelt und die Fünf …«, während er fortfuhr, erhob der Bischof Zeigefinger und Stimme, »…. eine heilige Zahl ist, die Zahl der Ischtar und der Venus! Unabhängig dieses ›Magischen Quadrates‹ ergibt die Summe der ersten fünf Zahlen die Zahl Fünfzehn!
Als der Bischof merkte, dass er mit seinen Erklärungsversuchen immer noch auf allseitiges Unverständnis stieß, schlug er mit veränderter Stimmlage eine völlig andere Richtung ein: »Vom Leinengarn her kennt ihr doch die Maßeinheit ›Mandel‹, oder etwa nicht?«
Na also, endlich kann ich mich dem unbelesenen Volk gegenüber verständlich machen, dachte sich der hochrangige kirchliche Würdenträger, nachdem er ein allseitiges Kopfnicken hatte feststellen können. »Auch dabei spielt die Fünfzehn eine maßgebliche Rolle, denn fünfzehn Garben Getreide sind eine ›Mandel‹, … oder? Ihr verkauft sogar die Eier eurer Hühner zu jeweils fünfzehn Stück!« Er hob eine geöffnete Hand in die Höhe und sagte mit den dazugehörenden Fingerbewegungen in beschwörendem Ton: »Drei Hand voll sind eine ›Mandel‹!« Sogar der Rosenkranz umfasst in drei Fünfergruppen fünfzehn Geheimnisse!« Das hatten nun auch die am einfachsten gestrickten unter diesen Menschen verstanden. Endlich hatte er sie bei sich und deswegen auch ihr Interesse geweckt! Also konnte er fortfahren, ohne auf weiteres Unverständnis zu stoßen: »Wie ihr alle wisst, unterscheiden wir den freudenreichen, den glorreichen und den schmerzhaften Rosenkranz! Im ›freudenreichen‹ werden die wichtigsten Stationen im Leben Mariens vergegenwärtigt, im ›schmerzhaften‹ wird die Passion Christi angerufen und im ›glorreichen‹ stellen wir die österlichen Geheimnisse in die Mitte! … Die fünfzehn Geheimnisse des Rosenkranzes machen uns darauf aufmerksam. Und nun kommen Wir auf das zurück, was Wir zuvor schon angesprochen hatten – dass die Zahlensymbolik der Ischtar und der Venus auf die Marienverehrung übertragen wurden! Ihr braucht also weder Furcht vor der Fünfzehn, noch vor diesem Amulett zu haben! Es sei denn …«
Ohne den Satz beendet zu haben, bekreuzigte sich der Bischof, was ihm die Kirchenbesucher nachmachten, ohne zu wissen, weshalb sie dies taten.
»Sein Wort in Gottes Ohr«, flüsterte die nachdenklich gewordene Gräfin ihrem Banknachbarn Hezelo von Entringen zu, einem Mitglied der Reichenauer Vogtfamilie.
Während der Bischof das Bildnis und die Symbole auf der anderen Seite des Amuletts zu deuten versuchte, dies aber mangels Wissen um die wahren Hintergründe dieses grausigen Motivs nur leidlich hinbekam, wurde es im ohnehin schon stillen Gotteshaus noch stiller. Selbst die Gebildeten unter ihnen wussten mit dem, was ihnen der Bischof mit gestenreich unterstrichenen Worten zu sagen versuchte, nicht umzugehen. Die abschließende Warnung des Bischofs verstanden aber alle: »Deswegen wagt es ja nicht, ins Innere des Menschen einzudringen und ihm die Seele zu nehmen!«
*
Nachdem der Graf das eigenartige Geschenk des Bischofs angenommen und sich dafür bedankt hatte, war von ihm die Zeremonie in der Kirche für beendet erklärt worden und alle Gäste schritten zum vorbereiteten Festmahl auf den großen Platz unterhalb des Kirchenhügels.
In der Wahrnehmung der einfachen Bevölkerung war es ein unbeschreiblich grandioses Fest, bei dem zu mitternächtlicher Stunde auch noch eines dieser seltenen Feuerspiele gezündet werden sollte – trotz des Winters ein gefährliches Unterfangen. Die Menschen fürchteten außer bösen Geistern und den winterlichen Dämonen, die Nachts aus den Wäldern kamen, um ihre Kinder zu entführen oder ihr Vieh zu stehlen, nichts so wie eine Feuersbrunst. Wegen der vielen Feuerkörbe, die der Graf aufgrund der Kälte um den überdachten Festplatz herum und sogar unter der Zeltplane hatte aufstellen lassen, war die Gefahr eines Brandes groß, sodass der Mair ein paar Männern aufgetragen hatte, die wärmespendenden Feuerkörbe nicht aus den Augen zu lassen. Auch den vom Grafen eingesetzten Feuerknechten, die für den Holznachschub verantwortlich waren, redete er ins Gewissen. Um sicherzugehen, dass nichts passieren konnte, ließ er abwechselnd vier männliche Dorfbewohner um das Festgelände herum Posten beziehen. »Achtet dabei auch darauf, dass sich keiner unserer Gäste an unserem Eigentum vergreift! Seid in jeder Hinsicht wachsam, hört ihr?«, hatte er die Männer beschworen, bevor er sich wieder zur gut gelaunten Gesellschaft gesellte.
Unter den fröhlichen Klängen von Fidel, Scheitholt und Trommel wurde gezecht, geprasst und gelacht, wie es in dieser harten Zeit nur äußerst selten und in villa Ysinensi noch nie der Fall gewesen war. Während die Musikanten fröhlich aufspielten und die Frauen sich über jeden einzelnen Tanz freuten, schlichen sich nach und nach einige der Männer heimlich davon, um etwas davon zu holen, was sie sich mehr als hart verdient und mühsam beiseitegelegt hatten. Aber so mancher kehrte enttäuscht an seinen Tisch zurück, um sich volllaufen zu lassen. Denn das Geld, das er in seiner Behausung aus dem Versteck geholt hatte, war zu wenig gewesen, um sich zumindest über das Viertel einer Stunde hinweg mit einer der drallen Gunstgewerblerinnen vergnügen zu können.
So wie dies von niemandem bemerkt wurde, fiel im Verlauf der bier- und weinseligen Nacht auch niemandem auf, dass sich mitten unter ihnen ein Fremder so ungeniert bewegte, als wenn er dazugehören würde. Wenn sich der eine oder andere auch über dessen Kapuzengewandung wunderte – die anders aussah als die der Mönche – und über das eigenartige Schwert an seinem Gürtel staunte, dachte sich niemand ernsthaft etwas dabei. Und den Mann anzusprechen, traute sich sowieso niemand, weil ihn allein schon die Tatsache, dass er eine Waffe tragen durfte, als einen Mann von hoher Herkunft auswies – egal woher er gekommen sein mochte. Außerdem waren sich die Wenigsten von ihnen vor diesem Fest persönlich begegnet, also konnte auch kaum jemand beurteilen, wer dazu gehörte und wer nicht. Lediglich die in blutroter Farbe auf den weißen Umhang gestickte Zahl Eins, die von einem ebenfalls roten Quadrat umrandet war, gab Anlass zu tuschelnden Spekulationen verschiedenster Art.
Irgendwann entfalteten die aufpeitschende Kraft der Musik und insbesondere der Alkohol ihre volle Wirkung. Nicht nur die meisten Dorfbewohner waren stark angetrunken, auch dem Bischof und dem Grafen fiel das Sprechen zunehmend schwerer. Bevor er ganz betrunken zu werden drohte, winkte der Herr über villa Ysinensi den neu bestallten Mair zu sich. »In deiner Eigenschaft als erster Mann deines Dorfes vertraue ich dir dieses wertlose Amulett an. Nimm es an dich!«, tuschelte er ihm zu.
»Was … was soll ich damit?«, wunderte sich Gerold Eberz, der bisher noch mit keiner vergleichbaren Aufgabe betraut worden war.
Der Graf winkte ihn jetzt so nahe zu sich, dass der Mair den Alkohol aus dessen Mund riechen konnte. »Dieses Amulett besteht aus minderwertigem Metall und ist für mich nicht von Bedeutung«, flüsterte ihm der Graf vertrauensvoll zu und ergänzte, dass es immerhin ein Geschenk