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Wie schon Wolfrads Gemahlin Hiltrud in früheren Zeiten hatte auch Gräfin Liutphild auffahren lassen, was Küche und Keller hergegeben hatten. Im Unterschied zu damals saß allerdings nicht nur der amtierende Altshausener Pfarrer, sondern auch noch ein Abgesandter des Klosters Hirsau aus dem Nordschwarzwald am üppig gedeckten Tisch.
»Ich bitte unseren ehrwürdigen Abt Wilhelm zu entschuldigen und mit meiner Wenigkeit Vorlieb zu nehmen. Aber wegen des großen Zulaufes in unserem Kloster plant er eine Erweiterung von St. Aurelius und ist deswegen unabkömmlich!«, entschuldigte sich der Stellvertreter des Hirsauer Abtes bereits zum zweiten Mal, während er auf die Köstlichkeiten schielte, die auf Veranlassung der Gräfin immer noch aufgetragen wurden.
Das freundliche »Greift bitte zu!« hätte sich der Graf sparen können. Denn so schnell hatten die Bediensteten gar nicht schauen können, wie sich der Hirsauer Mönch die Backen gefüllt hatte.
Als der Pfarrer dies sah, lächelte er verständnisvoll. Dann griff auch er ungeniert zu.
Über dieses unmanierliche Verhalten entsetzt, schauten sich die gräflichen Familienmitglieder an. Um die beiden Kleriker aber nicht zu brüskieren, streckte der Hausherr sein Glas dem Mundschenk entgegen, um es füllen zu lassen. Dann bedeutete er seinen beiden Söhnen, seiner Schwester und seiner Gemahlin, es ihm gleichzutun. Als alle ihre Trinkgefäße gefüllt hatten, stand der Hausherr auf und hielt sein Glas zuerst dem Prior, dann dem Pfarrer und zuletzt seiner Familie entgegen. »Auf gutes Gelingen!«
Das Repetieren seiner Worte durch die anderen ging in den vollen Mündern der beiden Männer Gottes unter. Das wird ja was werden, dachte sich der Graf im Hinblick auf das kommende Gespräch, das wegen der Völlerei seiner Gäste wohl noch eine ganze Weile würde warten müssen. Und genau so war es auch; die beiden Kleriker stopften sich eine geschlagene Stunde lang voll, während derer lediglich Höflichkeiten und ein paar Unwichtigkeiten ausgetauscht werden konnten. Dabei schmatzten sie ungeniert. Etliche Rülpser und Leibeswinde später konnte das Geschirr abgeräumt werden. Die auf dem ganzen Tisch herumliegenden Knöchelchen der in Salzlake gepökelten Schweinefüßchen und der gebratenen, mit Honig überstrichenen Hühnchen nahm eine Dienstmagd mitsamt der total versauten Tischdecke mit.
Als die fünf Männer dann auch noch einen Branntwein vom Bodensee vor sich stehen hatten, konnte Graf Manegold das Wort ergreifen und endlich ernsthaft zum Thema kommen. Also begann er: »Um ein Kloster errichten zu können, bedarf es eines ansehnlichen Grunds und Bodens, den Wir mit Zustimmung Unserer holden Gemahlin Liutphild, Unserer gemeinsamen Söhne Walther und Wolfrad, aber auch mit Einwilligung Unserer hochverehrten Schwester Irmengard und deren Sohn Manegold stiften werden!« Das Gespräch solchermaßen eröffnet schaute er ins Rund, um sich durch das gönnerhafte Kopfnicken seiner Familie das bestätigen zu lassen, was sie bereits hinreichend besprochen hatten. Er fuhr fort: »Mit weiteren, teils beweglichen, teils unbeweglichen Gütern in Form von zwölf der vierundzwanzig bereits bestehenden Höfe nebst anderen Grundstücken, Äckern, Wiesen, Weideplätzen, Waldungen, Wasserstellen, Mühlen und anderen Besitzungen werden Wir den Grundstein für den Bau eines Klosters in Ysinensi legen. Um diesen Kraftakt bewältigen zu können, werden Wir das aufblühende Dorf im Süden Unseres Herrschaftsgebietes in den Mittelpunkt Unseres Tuns rücken müssen! Dazu sind Wir mit der ganzen Macht Unseres Verstandes und Unseres Herzens entschlossen!«
»Hoffentlich auch mit der ganzen Kraft seiner Geldschatulle«, flüsterte der Altshausener Pfarrer dem klösterlichen Abgesandten in einem unbeobachteten Augenblick zu, bekam aber anstatt des erhofft zustimmenden Lächelns nur einen strafenden Blick zurück.
Nachdem der Graf seine weiteren Vorstellungen mitsamt einem Lageplan auf den Tisch gelegt hatte und sich auch seine Familie hinreichend zu Wort gekommen war, übermittelte der Prior die Vorschläge seines Abtes. Dabei war rasch offenkundig geworden, dass Abt Wilhelm auf die Empfehlungen seines Vertrauten Hugo von Cluny gehört und dessen strenge Lebensweise für das Kloster Hirsau übernommen hatte.
»Wenn es in Eurem Sinne ist, dass insbesondere der Tagesablauf, die Liturgie und die Organisation der klösterlichen Gemeinschaft auch in Ysinensi ganz besonders streng geregelt sind, entsendet unser geliebter Abt Wilhelm gerne so viele Mönche, wie benötigt werden, um ein geordnetes Klosterleben zum Wohlgefallen Gottes zu gewährleisten!«
Stundenlang hatten sie sich über viele Details des geplanten Klosterbaus und der späteren Klostergründung unterhalten. Dabei waren sie in medias res gegangen und hatten – sozusagen zur geistigen Erbauung – das »Blut Gottes« getrunken, wie der Prior den köstlichen und von ihm geweihten Wein aus der Mersburger Gegend bezeichnete. Im Verlauf des Gesprächs hatten sie auch allerlei Neuigkeiten ausgetauscht und waren von einem Thema ins andere gerutscht. So waren sie zu vorgerückter Stunde auch noch auf das »Magische Amulett« zu sprechen gekommen, von dem der derzeitige Besitzer berichtete, dass es bereits drei Menschenleben gekostet hatte. »Aber was soll ich tun?«, klagte der Graf. Ohne eine Antwort abzuwarten, die sowieso nicht gekommen wäre, beruhigte er sich selbst, indem er sagte, dass ihm wohl nichts anderes übrig bleiben würde, als es zu behalten und vor fremden Augen zu schützen.
»Ich weiß nicht, ob dies ein guter Gedanke ist«, warf der Prior ein.
»Wie meint Ihr das?«, mochte der Graf sofort wissen.
Der Stellvertreter des Hirsauer Abtes hielt dem Mundschenk sein Glas entgegen. Gleichzeitig umklammerte er mit der anderen Hand das vor seiner Brust hängende Pektorale – gerade so, als wenn er sich damit vor etwas schützen wolle.
»Was ist jetzt?«, drängte der unruhig gewordene Graf.
Der Prior beugte sich seinem Gastgeber verschwörerisch entgegen und flüsterte so leise, dass es die anderen nicht mitbekommen konnten: »Man hört ja so einiges …«
»Nun lasst Euch nicht alles aus der Nase ziehen!«, grummelte der Graf, während er den Mundschenk zu sich beorderte und auf das immer noch leere Glas des Priors zeigte.
Der Hirsauer rückte noch näher an den Grafen heran, bevor er ihm zuflüsterte, über mehrere Ecken gehört zu haben, dass es wohl einen Geheimbund geben müsse, der vor vielen Jahren im Konstanzer Münster gegründet worden sei.
»Was ist mit diesem geheimnisvollen Bund? Und was hat er mit dem Amulett zu tun?«
»Also gut!«, besänftige der Prior die Neugier seines adeligen Gastgebers. »Ich weiß nur so viel, dass sich diese Geheimbündler den Ziffern auf einem Amulett verschrieben haben, das über die Jahrhunderte hinweg immer wieder verloren geht, weswegen …«
»… sie es auch immer wieder suchen und dabei über Leichen gehen, um es zurückzubekommen?«, ergänzte der Graf mit fragendem Blick.
Kaum hatte er dies ausgesprochen, bekreuzigten sich die beiden Kleriker. Weil dem Besitzer des Amuletts das bestätigt worden war, was er schon länger geahnt hatte, wurde ihm schlagartig klar, dass er sich in Lebensgefahr befand, solange das vermaledeite Amulett in seinem Besitz war.
»Dennoch dürft Ihr es nicht weitergeben!«, warnte der Prior, der bemerkt hatte, was in seinem Gastgeber vorging.
Während der Benediktiner dem Grafen in ausladenden Worten alles berichtete, was Kleriker von Konstanz bis nach St. Gallen und zum Schwarzwald unter vorgehaltener Hand über einen grausamen »mehrere Hundert« Mitglieder umfassenden Geheimbund zu wissen glaubten, wurde Manegold immer schweigsamer. Wenn er auch wegen der in ihm hochgestiegenen Panik nichts mehr hören mochte, erklärte ihm der Prior unter dem Siegel der Verschwiegenheit, dass es sich um sogenannte Assassinen handeln solle, eine Meuchelmördersekte aus einem fernen Land namens Syren »… oder so ähnlich!«
Obwohl der schon längst mehr als gut angetrunkene Mönch selbst nicht mehr merkte, was er dem Grafen für einen Mist erzählte, war es ihm gelungen, eine solche Angst in dem Adeligen zu schüren, dass Manegold nur noch kleinlaut über die Lippen kam, dass es »beim nächsten Mal«