Es passierte gleich am ersten Wochenende, an dem sie bediente. Sie hatte das Mittagsgeschirr zurück in die Großküche getragen, als schon die ersten Fußballer eintrudelten und nach ihrem Maß Bier verlangten.
Paul war anders, er grölte nicht, sagte „bitteschön“ und überhaupt war Schreien nicht sein Ding.
„Bitte ein Radler“, bestellte er und lächelte Martha mit seinen dunklen Augen unter seinem schwarzen Lockenschopf an.
„Wer bist du denn?“, hatte er gefragt, „dich hab ich hier noch nie g’sehn.“
„Und du?“, gab Martha keck zurück, „wer bist du?“
„Komm, bring dem Paul ’ne Maß, 1:0 haben wir gewonnen, wegen ihm“, hörte sie einen Fußballer aus der Runde rufen.
Hinter der Theke erzählte Antonia ihr dann, dass der Paul wieder vom Krieg zurück ist. Und als sie Paul das Radler brachte, beschwerte sich Anton, wo denn seine Maß bliebe.
„Zuerst die, die sich benehmen können“, frotzelte Martha und schlug seinen Arm weg, mit dem Anton sie um die Hüfte packen wollte.
„Oh, die hilft zu unserm Paul“, betonte Anton. „Aber Paul, schlag sie dir aus dem Kopf, du bist einer von uns und Martha will sowieso in die Stadt, Lehrerin werden“, sagte er jetzt mit gehobener Stimme und zog die Augenbrauen dabei hoch.
„Wo bleibt denn die Maß?“ grölte Franz aus der Ecke, „die Sieger ham Durst.“
Martha eilte zum Zapfhahn, an dem Antonia schon die Maßkrüge aufgereiht hatte, nahm zwei in jede Hand und stellte sie vor ihnen auf dem Tisch ab. Paul warf Martha einen Blick zu und in dem Moment ging die Wirtshaustür auf und Edwin betrat die Gaststube. Er setzte sich zu den Fußballern und bestellte einen Apfelsaft.
„Danke Martha, schön dich zu sehen“, begrüßte er sie, als sie das Glas vor ihm abstellte.
Edwin war kein Fußballer, doch alle im Dorf hielten sich mit Kommentaren zurück. Zu mächtig wog der Vorwurf, dass das Gerede im Dorf seinen Vater in den Selbstmord getrieben habe. Edwin saß aufrecht in der Bank, den Kopf erhoben, fragte freundlich, wer das Siegertor geschossen hatte und prostete mit seinem Apfelsaft den anderen zu. So sehr Martha Edwins stoische Ruhe und Stolz bewunderte, so sehr suchte sie doch wieder nach den unruhigen und lachenden Augen von Paul. Er rauchte Zuban, die in der roten Packung. Das würde Martha sich merken.
Am späten Nachmittag gingen die Fußballer nach Hause, die meisten jungen Männer mussten das Vieh füttern. Manche kamen am Abend zum Schafkopf wieder.
Edwin, der seinen Apfelsaft an der Theke zahlte, fragte Martha, ob sie nicht mit ihm zum Kirchweihfest gehen wolle, als in dem Moment Paul mit erhobener Hand grüßend an der Theke vorbei zur Wirtshausstube hinausging. Martha wurde rot und stotterte irgendwas, von wegen, dass sie noch nicht wisse, ob ihre Mutter sie weggehen lassen würde, und anderes Zeug.
Noch während sie die Nachmittagstische abräumte, überlegte Martha schon, dass sie ihre hellen Sommerschuhe mit weißer Creme einschmieren wolle, die Seidenstrümpfe von Antonia anziehen und ihr Sommerkleid mit einem breiten Gürtel mit großer Schnalle zieren würde. Am liebsten hätte sie sich die Haare abgeschnitten und einen Bubikopf getragen, doch das Gerede im Dorf würde das Herz der Mutter nur noch schwerer werden lassen. Mit ihrer Schwester, die im Nachbardorf verheiratet war, würde sie tanzen üben in der Stube, das bräuchte die Mutter ja nicht zu wissen.
„Pack ihr noch Mohrrüben aus der Sandkiste mit ein, ein Glas Gurken und ein Einmachglas mit Birnenschnitz“, sagte die Mutter, als Martha ihren Rucksack für ihre Schwester Lene packte.
„Is’ ja schon gut, Mutter, aber das reicht jetzt. Ich schlepp mich ja zu Tode mit dem Rucksack übern Berg.“
Dass Martha unten in den Rucksack ihr Kleid, die Schuhe und die Lockenschere gepackt hatte, davon ahnte die Mutter nichts. Lene würde sich freuen, sie hatte ein Kleid von Mutter für sie umgenäht, auf Taille und mit Gürtel, vielleicht würde sie ja mit zum Kirchweihtanz kommen, wenn ihr Mann es zulässt.
Martha eilte mit diesen Gedanken unten zum Dorf hinaus, an den Gärten vorbei, zu den Weinbergen hoch, wo ein Waldweg sie in den Nachbarort führte.
*
Martha liebte diesen Weg, sie war ihn schon so oft als kleines Mädchen gegangen, zuerst mit ihrem Vater und dann allein. Wie jetzt im Mai zog sie, wenn sie drüben auf der anderen Seite unten am Bach angekommen war, ihre Wollstrümpfe aus und lief barfuß über das weiche, noch vom Schneewasser getränkte Moos am Waldesrand und kletterte über die sonnenerwärmten Steine der Bachbrücke. Mai bedeutete für sie luftiger Rock, weißes Blütenmeer an Bäumen und Sträuchern, dicke Maiglöckchensträuße, die sie als Kinder pflückten für die Marienaltäre, die in jedem katholischen Elternhaus in der Maienzeit zu finden waren.
Ihr Geruch ist giftig und dennoch hatten viele Frauen, so wie auch ihre Mutter, den Maialtar in ihrem Schlafzimmer hergerichtet. Die Muttergottesfigur hatte ein blaues Gewand und ein liebliches Gesicht und die Decke des Hausaltars war mit weißen Spitzen umhäkelt. Davor stand ein Schemel mit Kissen, damit es beim Knien und Beten für die Mutter nicht zu hart war. Die Blumenpracht faszinierte Martha, aber die Muttergottesfigur fand sie langweilig.
Ihre Mutter vertraute ihr kürzlich an, dass sie im hohlen Körper dieser Marienfigur immer ihr Bargeld versteckte – für den Fall, dass mal was mit ihr passieren würde, denn sie und Martha waren seit der Heirat ihrer Schwester allein. Martha musste lachen, drückte die Hand ihrer Mutter und flüsterte ihr zu:
„Weißt du was, Mama, da leg ich mein verdientes Geld vom Wirtshaus dazu, vielleicht findet ja ein Wunder statt wie bei der Brotvermehrung am See Genezareth. Die Mutter schüttelte den Kopf und ihre Mundwinkel verzogen sich zu einem Lächeln, was nur selten vorkam. Auch aus diesem Grund hatte es Lene schon früh von zuhause fortgezogen.
*
Lene breitete die Arme aus, als sie Martha zum Tor hereinkommen sah. Schon auf der Steintreppe vor dem Haus flüsterte sie ihr ins Ohr:
„Mein Mann ist heute Abend beim Weinbauverein.“
Martha schmunzelte und nickte. Lene nahm ihr den schweren Rucksack ab und während Lene die Kühe melkte und den Stall fertig machte, brachte Martha ihre Nichte und ihren Neffen ins Bett. Dann wurde noch Lore vom benachbarten Wirtshaus geholt, die ihren Plattenspieler im Koffer und ihre Schellackplatten mitbrachte. Dann konnte es losgehen.
Der Esstisch wurde zur Seite geschoben, Lene zog ihre Hochzeitsschuhe an und freute sich über das genähte Kleid von ihrer Schwester. Lore zog ein weißes Sommerkleid mit groß bedruckten blauen Blumen und enger Taille an und Martha holte ihre gefärbten Schuhe und ihr Baumwollkleid mit Taillenrock und UBoot- Ausschnitt aus dem Rucksack.
Die Walzermelodien erklangen und sie summten dazu, während sie sich Arm in Arm durch die Stube drehten. Bei den Swingplatten versuchten sie durch Fersenkicken, Auf- und Abwippen in den Knien, wobei sie den Hintern leicht nach hinten und den Oberkörper nach oben schoben, mit Schritten nach rechts, links, vor und zurück, in Schwung zu kommen. Sie drehten sich im Kreis, bis ihre Röcke hochflogen und ihnen schwindelig wurde und sie sich lachend auf das Kanapee in der Stube plumpsen ließen.
An diesem Abend legten Martha und Lene sich zu den Kindern ins Bett und Martha erzählte von Paul und ihrem Wunsch Lehrerin zu werden.
Am nächsten Morgen packte ihr Lene die Hochzeitsschuhe in den Rucksack.
„Für die Kirchweih“, sagte sie.
„Aber willst du denn nicht mitkommen?“, fragte Martha.