Als die ersten Flüchtlinge aus Schlesien kamen, verteilte sie der Bürgermeister auf die einzelnen Höfe. Nachdem einige sich beharrlich geweigert hatten sie aufzunehmen, ließ er Holzwände in der Lagerhalle einziehen, um somit einem Großteil der Zuflucht Suchenden Unterkunft zu gewähren. Es wurden Kanonenöfen und Herde aufgestellt und Säcke mit Stroh und alte Matratzen aus Hanf herbeigeschafft. Verstaubte Holzkisten, die früher mit Kartoffeln oder Hafer gefüllt gewesen waren, dienten als Möbel.
Auf dem Speicher des Lagerhauses hatte sich all das angesammelt, was die Flüchtlinge an Kostbarkeiten auf ihren Leiterwagen mit sich geschleppt hatten, in der Hoffnung, diese gegen etwas Essbares eintauschen zu können.
In Körben, Truhen und Koffern waren Bilder oder auch nur wertvolle Bilderrahmen verstaut, zusammen mit vielen Stoffbahnen aus Baumwolle, Seide und Leinen. Spindeln mit aufgerollten Spitzenborten und Satinbänder lagen dazwischen und Federstolas hingen aus den aufklaffenden Gepäckstücken heraus, an denen die Schlösser aufgesprungen oder gewaltsam geöffnet worden waren. Schwere Kerzenständer aus Messing, in rotem Filz oder wertvollen Pelzkragen eingewickelt, lagen zwischen dicken Büchern mit bunten Drucken und ledernem, goldbesetztem Einband, eng zusammen in hölzernen Kisten geschichtet.
Für Martha, die in dem kleinen katholischen Dorf nur Das Neue Testament und Die heiligen Legenden gekannt hatte, öffneten diese reich bebilderten und mit farbenprächtigen Zierschriften illustrierten Bücher ein Fenster zu einer neuen Welt, jenseits von Dorf, Wald, Wiesen und Feldern, größer, weiter und bunter, eine Welt, die es dort draußen irgendwo geben musste und in Martha das Fernweh weckte.
Martha lief hinunter zu Annegret und Edwin, die sie in der gaffenden Menschenmenge entdeckt hatte. Viele aus dem Ort waren zusammengelaufen und versammelten sich auf der Straße vor dem Lagerhaus. Martha hatte sich oft heimlich mit Annegret und Edwin dort getroffen. Hinten an der Rückwand des Lagerhauses stand immer eine Leiter angelehnt, mit der sie hoch in den Speicher geklettert waren und für Stunden die Dorfwelt vergessen konnten.
Sie und Annegret wickelten sich in bunte Seidenstoffe ein, warfen sich Federstolas oder Pelzchen über die Schultern, legten sich Satinbänder um den Bauch, hängten sich lange Perlenketten und Amulette um den Hals, probierten Hüte mit Blumengestecken oder kleinen Netzschleiern aus, spielten Prinzessin, Königin und feine Dame aus der Stadt zugleich. Das höchste der Gefühle war eine Zigarettenspitze; diese galant in den Mund gesteckt, posierten sie kichernd vor einem goldumrandeten zerbrochenen Spiegel.
Sie setzten Edwin einen Turban auf und warfen ihm ein Tuch mit goldbedruckten Ornamenten über die Schultern und ernannten ihn zum Sultan, zum König des Morgenlandes und Herrscher des Orients. Edwin war genervt von ihrem Gegacker und schälte sich aus der Verkleidung heraus. Meist saß er in der Ecke, blätterte durch die fremden Bücher und konnte seine Augen nicht abwenden von den Bildern eigenartiger Tiere, seltsamer Pflanzen und Menschen aller Hautfarben aus den unterschiedlichen Regionen der Welt.
Martha und Annegret beugten sich manchmal neugierig über seine Schulter, wenn er wieder in die Bildkarten versunken war und die Darstellungen der einzelnen Kontinente Asien, Afrika, Amerika und der Antarktis genau studierte. Die Art der Bekleidung, die Bemalung von Gesichtern oder Körpern, Kopfschmuck, Arm- und Halsreifen, Bronze- oder Tongefäße für Rituale, Waffen für den Kampf oder auch Schriftzeichen und Musikinstrumente sahen sie zum ersten Mal. Auch die Zeichnungen von nackten Menschen, jeder Strich eine Muskelfaser, von außen und von innen, ließen sie lange nicht mehr los.
Martha glaubte sich zu erinnern, dass Edwin das eine oder andere Buch mit nach Hause genommen hatte. Annegret ließ ein Amulett mitgehen und sie eine Brosche. Niemals hätten sie die Schmuckstücke tragen können, ohne dass ihr Geheimnis entdeckt worden wäre. Martha hatte ihres in den Kopfkeil des Bettes eingenäht und so wurde sie abends, bevor sie einschlief, jedes Mal an ihr schuldhaftes Vergehen erinnert und bekam ein schlechtes Gewissen.
Martha, die mittlerweile in der Traube der Menschen stand, die sich neugierig vor dem Brandort eingefunden hatte, hörte jemanden laut „Brandstiftung!“ rufen. Viele Köpfe drehten sich in die Richtung des Rufenden.
„Nein, wer sagt denn so was?“, empörte sich eine ältere Frau, die sich die Hand vor den Mund hielt und fortwährend mit dem Kopf schüttelte: „Die haben doch niemanden etwas weggenommen.“
„Naja, die eine Gör von denen hat neulich die Äpfel vom Bernbauer sein Garten aufgeklaubt“, kam es aus der Runde.
„Also, ich bitt’ euch, des sind doch Kinder, die haben Hunger“, entgegnete die Alte ihnen.
„Ja und wir, sollen wir nichts essen, jetzt wo sie unser Getreide mit dem Mutterkorn vergiftet ham!“, protestierte einer in der Runde. „Aber das wurde doch schon lang nicht mehr im Lagerhaus aufbereitet“, mischte sich ein älterer Bauer ein.
„Doch“, beharrte ein Jüngerer, „das letzte Saatgut haben wir raus geschaufelt, als die Halle den Flüchtlingen zugewiesen wurde, wer weiß, was die da für Krankheiten aus dem Osten oder vom Russ’ mitgebracht haben?“
„Die haben doch selbst nichts zu fressen gehabt, wie sollen die denn da was mit eingeschleppt haben!“, hörte man wieder eine Männerstimme einwenden.
„Die hatten Geld!“, beharrte der Jüngere erneut, „neulich hat mir einer von denen einen Messingkerzenständer angeboten, für einen Laib Brot. Ich weiß nicht, was die dort oben noch auf ihrem Dachboden gebunkert hatten.“
„Von einem Kerzenständer wirst du halt nicht satt, was soll denn des Geschwätz“, mischte sich die ältere Frau nun wieder ein.
„Naja, wer weiß, ob die den net aus der Kirche geklaut haben?“, ereiferte sich der Jüngere weiter.
„Spinnst du denn jetzt ganz und gar?“, fuhr ihn die Alte aufgebracht an.
„Des sind doch Protestanten, die achten doch nicht die Heiligenbilder und des Kreuz in der Kirch, die haben keine Beichte und wissen auch gar net, was a Sünd ist“, triumphierte dieser jetzt laut über die Köpfe der Menge hinweg, wobei einzelne zustimmend nickten.
Die alte Frau schüttelte wieder den Kopf, machte sich den Weg frei durch die Menge, zeigte mit dem Finger auf den Jüngeren und sagte:
„Du warst schon immer ein dummer und gehässiger Bub!“ Dann drehte sie sich um und ging.
„Und des Mutterkorn?“, rief er ihr laut hinterher, „was ist denn mit den Kindern, mit ihren tauben Fingern und Zehen und den roten aufgeplatzten Grinden in ihrem Gesicht?“
„Heilige Maria Mutter Gottes“, brabbelte jemand hinter Martha vor sich hin. Und als Martha sich umdrehte, sah sie, dass die Frau sich bekreuzigte. „Sie haben uns das Antoniusfeuer mitgebracht und jetzt ist es ihnen vom Herrgott zurückgegeben worden, des Antoniusfeuer, das Mutterkorn …“
Der Jüngere, der Sepp hieß, ließ nicht locker und verkündete weiter: „Dem Körner sein Kind kam neulich mit ’ner Behinderung auf die Welt. Zeit seines Lebens wird der net wieder gesund werden. – Des bringt uns diese Brut mit ins Dorf!“
„Beruhig dich, Sepp“, sagte jetzt eine Frau hinter ihm, die ihn am Arm aus der Menge zog und mit sich nach Hause nahm. Es war seine Mutter, die ein wachsames Auge auf ihren Sohn warf, seitdem dieser vom Militärdienst wegen seiner dicken Brillengläser abgelehnt worden war und im Feld nicht seinen Mann hatte stehen können.
Edwin, Annegret