Nicht, dass es jetzt noch irgendjemanden gab. Das hatte alles an dem Tag ein Ende genommen, an dem Königin Aethe hingerichtet worden war. Die Möchtegernrebellen unter den Adligen waren ausgedünnt worden und abgesehen davon hatten sie jetzt so oder so keinen Anführer mehr. Oh, der Feigling Vars war zwar geflohen, aber wer würde so einem Mann folgen? Die Töchter der Königin wurden ebenfalls vermisst, aber das bedeutete einfach, dass seine Stillen Männer ihre Arbeit mit der üblichen Perfektion erledigt hatten.
So würde Lady Meredith schließlich erkennen, dass Ravin die einzige Hoffnung war, die dieses Königreich auf Stärke und Einheit hatte. Vielleicht hatte sie es schon getan, denn sie war alles andere als dumm. Dann würde ihm die beste Spionin der drei Königreiche zur Verfügung stehen, um alles zu erfahren, was er über seine Feinde und seine Untertanen wissen wollte. Wo er bis jetzt durch offenkundige Angst regiert hatte, konnte er das Haus nutzen, um einen reibungslosen Ablauf zu gewährleisten, weil er im Voraus wusste, welche Schritte die Leute machen könnten.
Das war allerdings für später. Im Moment langweilte sich Ravin mit ihr.
„Wacht auf und geht“, befahl er ihr und schüttelte sie wach. „Jetzt.“
Sie drückte ihr Kleid an sich, als sie aus dem Raum floh, zurück zu dem Ort, von dem sie gekommen war. Als sie ging, trat einer von Ravins Stillen Männern ein und wartete nicht einmal auf Erlaubnis, bevor er nach vorne kam und sich verbeugte. Der Mann war bis auf eine Narbe unter seinem linken Auge absolut unscheinbar. Er trug einfache Höflingskleidung in Rot und seine Gesichtszüge waren langweilig und nicht erinnernswert. Ravin stand auf und warf seine Robe um seine Schultern.
„Es sollte einen guten Grund für diese Unterbrechung geben“, sagte er.
„Den gibt es, Imperator Ravin“, sagte der Mann.
„Das werde ich beurteilen“, sagte Ravin. „Wie ist Euer Name?“
„Quail, mein Imperator.“ Der Mann verneigte sich erneut. „Es wurden drei Körper gefunden, die mehrere Tage schon tot sind.“
„Leichen …“ Ravin zuckte die Achseln. „Prinzessin Lenore und die anderen? Wenn dies ein Bericht über den Erfolg Eurer Truppe sein soll, ist dies nicht der richtige Weg.“
Der Stille Mann schüttelte den Kopf. „Bedauerlicherweise sind die Leichen … diejenigen, die geschickt wurden, um die Prinzessin auf Euren Befehl zu töten.“
„Was?“ Ravin brüllte. „Und niemand hat es bemerkt? Niemand hat gesehen, dass die Stillen Männer nicht dort waren, wo sie sein sollten?“
„Letztendlich“, sagte Quail, „haben wir die Männer gesucht und gefunden. Aber als die Prinzessinnen an der Hinrichtung teilnahmen, wurde angenommen, dass sie abwarten und danach zuschlagen wollten. Es wurde angenommen, dass sie sich … Zeit nehmen.“
„Selbstverständlich habt Ihr das“, sagte Ravin.
„Vergebt uns, Imperator“, sagte Quail und fiel diesmal auf die Knie. „Wir sprechen selten offen über unsere Aufgaben, auch nicht miteinander.“
Ravin unterdrückte seinen Zorn. Selbstverständlich taten sie das nicht, denn so bevorzugte er die Dinge. Die Stillen Männer operierten in kleinen Gruppen, damit sie nicht zu mächtig wurden oder seine Anweisungen ignorierten. In diesem Fall bedeutete dies jedoch, dass die Prinzessinnen überlebt hatten, und der Ärger darüber brachte ihn dazu, dem Narren vor ihm den Kopf abschneiden zu wollen. Das würde aber nichts nützen. Im Moment war der Stille Mann lebend nützlicher.
„Ihr glaubt, dass ich Euch töten werde, nicht wahr?“, fragte Ravin.
„Die … Möglichkeit wurde angesprochen“, sagte Quail. In seiner Stimme lag ein Zögern, aber keine echte Angst. Den Stillen Männern wurden solche Dinge in ihrer Ausbildung auf eine Weise abgewöhnt, die selbst Ravin als grausam betrachtete.
„Und Ihr wart derjenige, den sie geschickt haben, obwohl es ein anderer hätte sein können“, vermutete Ravin.
Quail nickte nur.
„Dann werdet Ihr derjenige sein, der die Chance auf Wiedergutmachung für den Misserfolg anführt“, sagte Ravin.
Jetzt sah der Stille Mann verwirrt aus. „Mein Imperator?“
„Die Prinzessin muss gefunden werden. Sie muss sterben“, sagte Ravin. Er dachte einen Moment nach. „Beide Prinzessinnen und der Ritter, der an ihrer Seite steht. Sie sind alle zu gefährlich, um leben zu dürfen.“
Der Stille Mann zögerte eine Sekunde.
„Stimmt Ihr nicht zu?“, fragte Ravin.
„Sie sind zwei unbedeutende Mädchen und ein Verrückter“, sagte Quail. „Es gibt einige … unter uns, die nicht verstehen konnten, warum Ihr unsere Leute geschickt habt, um Prinzessin Lenore zu ermorden, wenn Ihr sie hättet beanspruchen oder durch Lord Finnal kontrollieren lassen können.“
Ravin schnappte sich sein Schwert und führte es in einem Schwung, bis es direkt unter dem rechten Auge des Stillen Mannes ruhte.
„Möchtet Ihr eine weitere Narbe, die zu Eurer ersten passt?“, fragte er.
Der Stille Mann blieb ruhig. „Wie Ihr wünscht, Imperator Ravin.“
„Und das wünsche ich auch. Das sollte Euch genügen.“ Ravin erklärte sich seinen Männern gewöhnlich nicht, aber jetzt würde es vielleicht helfen. „Prinzessin Lenore war immer eine potenzielle Bedrohung, während sie hier war. In meinem Jagdschloss wäre sie keine Gefahr gewesen, nur eine Trophäe. Hier im Königreich jedoch hätten sich Menschen um sie versammeln können und sie könnten es immer noch tun, solange sie lebt. Sie muss sterben. Niemand darf wissen, dass sie überlebt hat.“
Der Stille Mann nickte. „Wie Ihr befehlt.“
Er stand auf und drehte sich um, um zu gehen.
„Und, Quail?“, fragte Ravin und hielt ihn kurz auf. „Denkt daran, dass ich jetzt das Haus der Seufzer habe. Wenn meine Stillen Männer wieder versagen, werden vielleicht einige von Euch ersetzt.“
KAPITEL DREI
Die Sonne brannte auf Lenore herunter, während sie und die anderen weiterliefen. Um sie herum lagen Weizen- und Gerstenfelder, die sich sanft im Wind bewegten, Trockenmauern, die sie trennten, und Viehtreiberpfade, die ihnen den Weg von einem Ort zum anderen wiesen. Hier und da stand eine Vogelscheuche auf den Feldern oder eine kleine Anzahl Bäume unterbrach die Monotonie der Landschaft.
Sie waren jetzt seit Tagen unterwegs, bewegten sich mit Vorsicht und hielten sich an die kleineren Wege zwischen den Feldern. Ihre Beine schmerzten vor Anstrengung, aber sie wusste, dass sie sich nicht beschweren sollte. Sie hatten das Glück, jetzt nicht tot zu sein. Im Vergleich dazu war ein wenig Unbehagen nichts.
„Geht es Euch gut, Prinzessin?“, fragte Odd. Er war besorgt um Lenores Wohlergehen, seit sie die Stadt verlassen hatten und aufs Land gegangen waren. Er sah in edlen Kleidern immer noch seltsam aus, sein geschorenes Haar passte nicht dazu und er hielt seinen Umhang um sich, als wäre er ein Ersatz für seine Mönchsrobe.
„Mir geht es gut“, sagte Lenore. In Wahrheit war sie hungrig und müde und verängstigt, aber sie würde stark sein. Sie wusste, wie sie jetzt aussehen musste. Ihre Kleidung war fleckig und an den Rändern zerrissen, weil sie sich an Brombeerhecken verfangen hatte, durch die sie sich hatten durchkämpfen müssen. Ihr dunkles Haar war zurückgebunden, um es aus ihrem Gesicht zu halten, und das Sonnenlicht blendete sie.
Erin ging voran und stützte sich auf den Stock, der ihren kurzen Speer tarnte. Sie war schmutziger als beide von ihnen, weil sie immer die erste war, die durch Bäche oder über niedrige Mauern stürzte. Jedes Mal, wenn sie sich bewegte, schimmerte ihre Rüstung, und ihre Gesichtszüge unter ihrem kurzen Haar sahen entschlossen aus, die Schmerzen, die sie fühlen musste, nicht zu zeigen. Sie hielt nach Bedrohungen Ausschau und betrachtete jeden Busch, Baum und jedes mit Weizen gefüllte Feld misstrauisch. Sie war in den letzten Tagen recht still gewesen und Lenore wusste nicht, ob es ihre anhaltende Wut auf sie war, dass