Unter ihr flog eine Drohne am Wohnblock vorbei. Sie projizierte ein Hologramm des New Hoper Bürgermeisters Desmond Giordano. Dazu ertönte eine Lautsprecherdurchsage mit der Stimme des Stadtoberhaupts, die auf schizophrene Weise zugleich sowohl vor der allgegenwärtigen Terrorgefahr warnte, als auch garantierte, dass kein Grund zur Besorgnis bestehe.
Audrey hörte die Stimme nicht. Stattdessen musste sie an die Worte des Mannes denken, den sie während ihres Rausches getroffen hatte: ›Trotz allem hattest du Glück: Du hast mich gefunden und darfst wieder gehen. Das können nicht alle von sich behaupten, die mich besucht haben.‹
Ihre Gedanken schweiften ab zu dem neuesten Mumienmord, der sich laut den Nachrichten am Vormittag ereignet hatte.
Böses Erwachen – eine Stadt sucht einen Mörder
The shitstorms are coming!
Graffiti, Künstler unbekannt
*
The shitstorms are coming! Die Warnung starrte Steiner von der Wand des versifften Aufzugs an, der ihn und sein Motorrad aus dem Wabenblock beförderte. Sie kam wieder einmal zu spät, denn ein Shitstorm der ganz besonderen Art wütete bereits in seinem Schädel. Er wusste nicht mehr, was er gestern Abend alles in sich hineingeschüttet hatte, aber den Schmerzen nach zu urteilen, mussten es sich Madame Ming und er ziemlich dreckig gegeben haben.
Wenigstens hatte er schon einen Kaffee intus – mitsamt dem obligatorischen Tablettenmix aus Aspirin, einer Antialkpille und seiner täglichen Anti-Aging-Dosis. Sich zu duschen war leider nicht drin gewesen, Madame Ming brauchte ihre tägliche Wasserration für sich selbst. Ein gewaschenes Gesicht und Deo unter den Achseln mussten gegen den Alkoholgestank vorerst ausreichen. Die einzige, die sich daran stören würde, wäre ohnehin Irina. Aber er war es gewohnt, mit ihren feindseligen Blicken zu leben. Die sollte sich nicht so aufführen, schließlich machte er den Job schon eine halbe Ewigkeit. Auch ihr Idealismus würde mit der Zeit verschleißen. Ein Gedanke, den Steiner als äußerst tröstend empfand.
Auf der Fahrt durch die belebten Straßen New Hopes, in denen er sich hauptsächlich gegen militante Radfahrer durchsetzen musste, machte er einen kurzen Halt an einem Bäckereiautomaten. Er wählte aus den vielen der vegetarisch belegten und in Diätmajo ertränkten Brötchen eines aus, um es während der Fahrt hinunterzuwürgen. Das entsprach zwar nicht den Verkehrsregeln, aber wer hielt sich schon daran? Außer Fußgängern und Passagieren der Metropolbahn waren die meisten Verkehrsteilnehmer schließlich Radfahrer. Und das waren die selbstgerechtesten Verkehrsfaschisten überhaupt, wenn es nach Steiner ging. Die fuhren ja mit dem Rad und taten damit der Natur und ihrer Gesundheit etwas Gutes. Da durften sie schon erwarten, dass die Welt ihnen applaudierte, wenn sie Fußgänger zur Seite drängten oder die Metropolbahn blockierten, weil sie dringend noch über die Schienen mussten. Damit musste man doch Einsehen haben.
Zusätzlich waren diese Lahmärsche seinem Motorrad im Weg. Nachdem der Kommissar wieder einmal von einem dieser Idioten geschnitten wurde, der ohne Handzeichen und Schulterblick in Steiners Fahrbahn eingebrochen war, stellte er seine Sirene an und drängte den Flachwichser zurück in seine Spur. Rücksichtlos heizte er an den eingeschüchterten Radfahrern vorbei, bis er endlich das Polizeihauptrevier der Undercity erreichte. Das Sirenengeheul war zwar Gift für seinen Schädel, aber der wummernde Schmerz, den es auslöste, war allemal besser, als sich dieses Verkehrshickhack weiterhin bieten zu lassen.
Irina Dvorac war eine Frau von beinahe zwei Metern Größe und kräftigem Körperbau, so der Typ Terminator. Ihr Gesicht war im Gegensatz dazu das Sinnbild von vollendeter weiblicher Schönheit. Ihre Reaktion auf sein nur mühsam kaschiertes Saufgelage des Vorabends war so vorhersehbar wie vernichtend:
»Süleyman, wenn du dich schon mit deinem kriminellen chinesischen Flittchen volllaufen lässt, dann sei wenigstens keine Pussy und komm am nächsten Tag pünktlich zur Arbeit. Und zieh keine solch mitleidserregende Fresse, das ist echt ekelerregend!«
»Eigentlich ist sie Franko-Kanadierin«, brummte Steiner in sich hinein »Ihr asiatisches Aussehen kommt von ihrem Großvater mütterlicherseits. Der kam aus Myanmar, als das Land noch so hieß …« Zumindest hatte sie ihm das erzählt. Was an den Geschichten dieser Frau stimmte und was nicht, konnte er nie so genau sagen. Die Wahrheit war ihm aber auch schlicht egal.
»Dann ist sie eben ein franko-kanadisches Flittchen mit burmesischen Wurzeln, tut das irgendwas zur Sache?«, fauchte sie gereizt.
Oh je, heute war sie aber so etwas von scheiße drauf. Irina hatte zu seinem Leidweisen ein sehr ausgeprägtes Temperament. Steiner fragte sich, ob das daher kam, dass sie aus einem der zahlreichen semiautonomen und autokratischen Staaten des Wahren Pakts für Europa (WPE) stammte, die alle in der Einflusssphäre des Russischen Imperiums lagen.
An seinem Schreibtisch angekommen, ließ er sich in seinen ergonomisch geschwungenen Sitz fallen. Während er sich mit seinem Smartpod ins Polizeinetz einloggte, fragte er seine Kollegin:
»Hat sich seit gestern irgendetwas Neues im Mordfall am Erasmus ergeben?«
Irina, mit der er sich ein Abteil des Großraumbüros teilte, das von über 20 Kommissaren und Kommissarinnen benutzt wurde, saß ihm gegenüber. Sie minimierte den Holodesktop auf ihrem Schreibtisch mit einer herabwischenden Handbewegung, um ihn besser zu sehen.
»Wir haben keine neuen Spuren am Tatort entdeckt, falls es das ist, was du meinst. Allerdings bin ich auf Unstimmigkeiten gestoßen, als ich mit unseren biometrischen Suchprogrammen die Kameraaufzeichnungen des Erasmus-von-Rotterdam-Platzes überprüft habe: Unser Verdächtiger ist auf keiner der Aufnahmen zu sehen. Auch sonst habe ich in unseren Datenbanken so gut wie nichts über ihn gefunden.« Sie sah ihrem Kollegen verschwörerisch in die Augen.
»Ist denn der gesamte Platz komplett mit Kameras abgedeckt?«, meinte Steiner abgelenkt, der seinerseits seinen Bildschirm zwischen ihnen erscheinen ließ und ihn soweit vergrößerte, sodass er Irina verdeckte. Mit gespielt konzentriertem Blick rief er die neuesten Informationen der Mordkommission AlbinoBlue auf.
»Nein, aber der Zugang zu den Toiletten ist bis auf wenige minutenlange Unterbrechungen dauernd abgedeckt. Entweder hat unser Zeuge dort mindestens zweieinhalb Stunden verbracht oder ich kann mir nicht erklären, wie er unbemerkt dort hineingekommen ist.«
»Häh?«, Steiner war plötzlich ganz Ohr.
»Ich sagte …«,
»Ja, ich habe dich gehört … Aber wie ist das möglich?«
»Das sollten wir unseren Zeugen vielleicht selber fragen. Oder besser gesagt: Du. Ich habe hier nämlich noch zu tun und du hast ihn schließlich schon einmal vernommen. Wenn auch ziemlich dilettantisch.«
›Besorg’s dir doch selber‹, fluchte er gedanklich und minimierte seinen Bildschirm. Sein Smartpod unterbrach die Verbindung zum Polizeinetzwerk. Steiner legte seinen mobilen Rechner wieder auf sein Armgelenk, wo sich dieser an der Haut des Kommissars festsaugte. Der Halt war so bombenfest wie bequem. Warum konnte nicht alles im Leben so einfach und durchdacht wie dieses Stück Technik sein? Steiner stand seufzend auf.
Die »Mumienmorde«, so hatten die Medien die Reihe mysteriöser Todesfälle getauft, die die Stadt seit Monaten in Atem hielten. Weil die Opfer keinen Tropfen Flüssigkeit mehr enthielten und so ausgetrocknet waren wie Mumien aus der Zeit der Pharaonen. Nachdem es nun schon über vierzig dokumentierte Fälle gab und die Ermittlungen nach wie vor nicht vom Fleck gekommen waren, war eine EF-Taskforce gebildet worden. Sie bestand aus führenden Kriminalexperten aller Verwaltungsbezirke der Europäischen Föderation sowie aus Beamten der Polizei von New Hope. Zum Chefermittler der Taskforce war Georgios Venizelos ernannt worden, eine wahre Polizeilegende. Er hatte innerhalb von Kriminalistenkreisen erstmals größere Bekanntheit erlangt, als er im EF-Distrikt Ost-Mediterranien eine Mordserie an den Managern eines chinesisch-europäischen Konsortiums aufgeklärt hatte, die alle von ihren heimischen Servicerobotern umgebracht worden waren. Als Täter stellte sich eine Gruppe von vollkommen verarmten Firmentechnikern heraus, die von ihrem