„Das ist natürlich schade für Sie. Und für mich.“ Nach dem letzten Satz lachte er wieder schallend auf. Bevor Kleinheinz etwas entgegnen konnte, öffnete sich mit einem Zischen die Fahrstuhltür. Im Inneren saß ein alter, faltenzerfurchter Mann, der mit angestrengter Miene und steifen Bewegungen versuchte, seinen Rollstuhl über die Bodenschwelle zu lenken. „Ah, unser Herr ... äh ... hier Dings“, rief Brettschneider ebenso überzogen laut wie freundlich. Er zwängte sich an ihm vorbei in den Aufzug, ohne Anstalten zu machen, ihm über die Schikane zu helfen. Von hinten gab er dem Rollstuhl einen leichten Tritt, sodass dieser mit Schwung über die Schwelle rumpelte. Der alte Mann brummelte etwas Unverständliches und Brettschneider wandte sich wieder dem Kommissar zu, während sich die Aufzugtür geräuschvoll hinter ihnen schloss: „Das Erfolgsgeheimnis ist, genau die richtige Mischung zwischen Respekt und Mitgefühl für die alten Knacker zu entwickeln.“
Kleinheinz, der nur schwer an sich halten konnte, versuchte das Thema zu wechseln. „Warum lebt denn Frau Thönnissen hier? Sie machte gestern auf mich einen sehr rüstigen Eindruck – abgesehen von dem Schock, unter dem sie stand.“
„Einsamkeit. Wissen Sie, wir sind hier ja auch so eine Art Geriatrie-Wellness-Oase.“ Er musste kurz auflachen über seine Wortschöpfung. „Hier leben ja nicht nur umnachtete Tattergreise, sondern auch Menschen, die keine Familie mehr haben und die Gesellschaft brauchen. Und wenn sie das nötige Kleingeld dafür haben, kann man hier gut leben. Besser als im Hotel.“
Der Aufzug kam mit einem Ruck zum Stehen und die Tür öffnete sich wieder. Davor wartete eine junge, sehr attraktive Schwester mit einem Tablett, auf dem ganz offensichtlich mehrere Urinproben standen. Brettschneider wies ihr breit lächelnd mit beiden Armen den Weg in den Fahrstuhl und sagte: „Oh, Schwester Vanessa. Aber nicht wieder alles auf einmal austrinken.“ Darauf folgte das schon obligatorische laute Lachen. Schwester Vanessas Wangen erröteten leicht und sie zwang sich ein gequältes Lächeln ab.
Kleinheinz musste sich anstrengen, mit Brettschneider Schritt zu halten, als dieser den Flur entlangpflügte. „Hier um die Ecke ist der große Essenssaal. Da müsste Frau Thönnissen jetzt sein. Es gibt hier genug ruhige Ecken, wo Sie sich mit der alten Schacht ... äh ... Dame unterhalten können. Stimmt es wirklich, dass sie gestern bei dem Überfall mit im Laden war?“
„Bedauerlicherweise ja. Ich danke Ihnen, Herr Brettschneider. Ich komme dann alleine klar. Vielen Dank für die interessanten Eindrücke.“
„Gerne. Wenn noch was ist, ich bin unten in meinem Büro.“ Er drehte sich schwungvoll um und wäre fast mit einer Bewohnerin zusammengestoßen, die gerade, auf einen Rollator gestützt, auf dem Weg in den Essenssaal war. „Huppsala, Frau ... äh ... Dings. So schnell unterwegs? Nicht, dass Sie noch geblitzt werden.“ Lachend ging er zurück zum Aufzug.
Kleinheinz atmete kurz durch, bevor er in den Essenssaal trat. Er erkannte Frau Thönnissen sofort. Als er sie ganz alleine an einem Tisch sitzen sah, wo sie leicht vornübergebeugt mit ihrer zittrigen rechten Hand ganz langsam ein Stück Marmorkuchen zerteilte, überfiel ihn eine bleierne Traurigkeit und er musste unwillkürlich an seine geliebte Großmutter denken, die in ihrem letzten Lebensjahr auch immer so schief an ihrem kleinen Küchentisch gesessen hatte, so als ob sie die ganze Last des Lebens auf ihren knochigen, zerbrechlichen Schultern tragen müsste. Damals war der einstige Glanz in ihren Augen längst erloschen und man hatte das Gefühl, sie würde nur noch darauf warten, erlöst zu werden. Kommissar Kleinheinz schneuzte sich kurz und leise die Nase, bevor er auf Frau Thönnissen zuging.
6
Sonntag, 12. Juli, 15.59 Uhr
Das Thermometer war an diesem Nachmittag auf über 28 Grad geklettert. Borowka wedelte sich mit der Speisekarte frische Luft ins Gesicht. Obwohl sie draußen saßen, machte ihm die drückende Hitze zu schaffen. Außerdem fächelte er, um sich irgendwie zu beschäftigen. Seit über zwei Stunden saßen sie nun schon hier auf der Außenterrasse der Saffelener Frittenbude „Grill-Container“. Sobald das Wetter es zuließ, stellte die Inhaberin, Rosi Schlömer-Okawango, Plastiktische und -stühle auf den Schottervorplatz ihrer mit weißen und roten Lampions geschmückten Imbissbude. Für die Gäste war es eine Wohltat, konnten sie doch nicht nur die Sonne genießen, sondern auch noch dem schlecht belüfteten Gastraum entgehen. Das war umso wichtiger, da die Abzugshaube nun schon seit Längerem defekt war. Genau genommen seit vier Monaten, seit Rosi von ihrem Mann Owamba verlassen worden war. Es musste ungefähr einen Tag nach dem Erhalt seiner unbefristeten Aufenthaltserlaubnis gewesen sein, als man Owamba das letzte Mal mit einem Koffer am Bahnhof gesehen hatte. Bis dahin hatte er zuverlässig alles repariert, was kaputt gegangen war und auch an der Friteuse hatte er ausgeholfen, wenn Not am Mann war. Nun war Rosi wieder auf sich allein gestellt. Wie all die Jahre vor Owamba auch. Sie hatte den gut aussehenden Schwarzafrikaner damals bei einem Cluburlaub in Kenia kennengelernt, wo er sich als Animateur um die Gäste gekümmert hatte. Kurz danach war er ihr nach Saffelen gefolgt, wo sie bald geheiratet hatten. Fredi und Borowka kannten Rosi noch aus der Schule. Und deshalb war es natürlich Ehrensache für die beiden gewesen, dass sie die Frau in ihrer schwierigen privaten Situation mit einem Sonntagsbesuch unterstützten. Zwar hatten Rita und Martina auf etwas anderes gehofft, als Fredi stolz verkündet hatte, dass er einen Tisch für vier Personen bestellt hatte, aber egal – es war Sommer und die Laune war bei allen prächtig. Außer bei Borowka, der angeödet mit der Speisekarte vor sich hin wedelte. Rita und Martina waren enge Freundinnen und konnten sich stundenlang über nichts unterhalten, was sie auch diesmal wieder mit großer Begeisterung taten. Fredi genügte es völlig, Martina anzusehen und mit einem fast schon an Debilität grenzenden verzückten Grinsen jede einzelne Sommersprosse auf ihrer Nase und jedes einzelne blonde Härchen auf ihrem Unterarm zu bewundern. Borowka war so satt, dass er nicht mal mehr etwas essen konnte gegen die lähmende Langeweile. Sie hatten jeder eine große Portion Fritten mit Bratrollen und Bamis gegessen und Unmengen Cola getrunken. Die Frauen hatten anschließend jeweils einen Cappuccino getrunken, ein neumodisches Szenegetränk, das langsam in Saffelen Einzug hielt. Fredi und Borowka dagegen hatten es beim bewährten Jägermeister belassen. Zu Beginn des Treffens hatte Borowka sich noch mit Fredi über Autos unterhalten, aber der hatte nie richtig zugehört, weil er immer mit einem Ohr auf das Frauengespräch geachtet hatte, um ja nicht zu verpassen, wenn sich Martina an ihn wandte. Was aber nicht passierte.
Gerade als Borowka dachte, dass es nicht mehr schlimmer kommen konnte, sah er mit hohem Tempo einen schwarzen BMW X5 auf den Parkplatz schießen. Der Fahrer bremste sportlich ab und etwas Rollsplitt spritzte bis kurz vor Borowkas Füße. Das Gespräch am Tisch verstummte und auch Fredi, Martina und Rita sahen nun zu dem schicken Wagen hinüber. Mit einem Satz sprang Bernd Bommer heraus und kam selbstbewusst mit federndem Gang und durchgedrücktem Kreuz auf den Frittencontainer zu. Eine große Sonnenbrille steckte in seinem dunkelblonden, mit Gel gebändigten struppigen Haar. Über einer dunklen Cargohose mit ausgebeulten Seitentaschen trug er ein eng tailliertes buntes T-Shirt, auf dem Borowka einen Totenkopf erkannte, aus dessen rechtem Auge eine Schlange herauszüngelte. Darüber stand in verspielter Schrift „Ed Hardy“. Was für Scheißklamotten, dachte Borowka und zupfte sich die Lederkrawatte auf seinem Jeanshemd zurecht. Bernd Bommer war vor knapp zwei Monaten nach Saffelen gezogen und hatte für einigen Aufruhr unter der heiratsfähigen weiblichen Bevölkerung gesorgt, weil er recht gut aussah und mit seinem gepflegten Dreitagebart immer sehr verwegen wirkte. Doch Bommer hatte nie Augen für die Frauen des Dorfes gehabt, so sehr sie sich auch um ihn bemüht hatten. Es hieß, dass er sich gerade erst von seiner Frau und seinem kleinen Sohn getrennt hatte. Er war aus der Nähe von Euskirchen gekommen und wollte nun in der ländlichen Gegend neu anfangen. Noch wohnte er in einem Fremdenzimmer der Gaststätte Harry Aretz, doch er suchte fieberhaft nach einer geeigneten Wohnung. Er war freiberuflicher Dolmetscher und arbeitete von zu Hause aus. Im Dorf hatte er sich schon ganz gut eingelebt. Er spielte sogar zusammen mit Fredi und Borowka in der Reserve des SV Saffelen, die sich zumeist am Tabellenende der Kreisliga C tummelte. Noch trainierte er nur mit, aber zur kommenden Saison würde er spielberechtigt sein. Bommer war für die Saffelener Reserve weit mehr als nur eine Verstärkung. Er war eine Art Hoffnungsträger, hatte er doch beim Kaller SC sogar in der Landesliga gespielt.
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