25 km/h (ISBN 978-3-9807844-2-9)
Das Schweigen der Kühe (ISBN 978-3-9807844-4-3)
Christian Macharski
Die Königin der Tulpen
DORFKRIMI
© 2009 by paperback Verlag
Alle Rechte vorbehalten. Abdruck, auch auszugsweise,
nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Verlags
Umschlaggestaltung: kursiv, Oliver Forsbach
Fotos: Marcus Müller
Lektorat: Kristina Raub
eISBN: 978-3-9807844-5-0
Die Personen und Handlungen der Geschichte sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden und verstorbenen Person sind zufällig und nicht beabsichtigt. Die Protagonisten des Romans basieren auf Bühnenfiguren des Comedy-Duos Rurtal Trio.
Für Alexandra
Prolog
Freitag, 10. Juli, 22.14 Uhr
Der aufgeweichte Waldboden quietschte unter ihren Schuhen. Die hohen Kiefern bewegten sich träge im Wind und ächzten unter dem peitschenden Regen. In der Ferne durchzuckte ein Blitz den wolkenverhangenen Abendhimmel. Irgendwann hatte sich der Pfad, dem sie gefolgt war, in einem Dickicht aus Unterholz, verrotteten Baumstämmen und moosbewachsenen Wurzeln verloren und der Wald war wie eine schwere Tür hinter ihr zugeschlagen. Sie hatte längst jegliches Zeitgefühl verloren. Hunger und Kälte nagten an ihr. Und Angst. Unsagbare Angst. Plötzlich tauchte mitten im Wald ein großes, gusseisernes Tor auf. Irritiert, aber neugierig schob sie es mit einiger Kraftanstrengung auf. Dahinter lag eine lange Kieseinfahrt, die vor einer brüchigen Treppe endete. Die Treppe führte in ein Haus, das man vor hundert Jahren als hochherrschaftlich bezeichnet hätte. Mittlerweile war es zwar windschief und zusehends verfallen, aber noch strahlte die Silhouette, die sich gegen die immer stärker werdende Dämmerung abhob, eine gewisse Würde aus. Die wenigen Fenster, die nicht zerbrochen waren, waren blind und mit Spinnweben überzogen. Die Veranda war von Unkraut überwuchert.
„Besser als nichts“, sagte sie sich, „hier kann ich wenigstens die Nacht verbringen.“
Nun nicht mehr durch die hohen Baumkronen geschützt, lief sie über den kurzen Weg zum Haus. Als sie ankam, war sie komplett durchnässt, weil der Regen erbarmungslos auf sie niedergeprasselt war und der schneidende Wind ihn ihr von vorne ins Gesicht geblasen hatte. Die große Eingangstür war unverschlossen. Sie schob sie vorsichtig auf und steckte ihren Kopf durch den Spalt. Ein muffiger Geruch von feuchten Wänden und alten Teppichen schlug ihr entgegen. Sie rief: „Hallo. Ist da einer?“ Doch ihre Worte echoten von den Wänden der leeren Empfangshalle zurück. Das Licht im Inneren des Hauses schimmerte bläulich und es war deutlich wärmer, als sie erwartet hatte. Es schien, als hätte erst vor Kurzem jemand geheizt. Kann aber auch nur Einbildung sein, dachte sie fröstelnd. Sie stand nun in der großen Vorhalle und ließ ihren Blick durch den Raum wandern. Auf der linken Seite befanden sich ein großer Saal, in dem zerbrochene Stühle und jede Menge Bauschutt lagen, und eine Art Wintergarten, in dem die Scherben der zerborstenen Fenster auf dem Boden verstreut waren. Auf der rechten Seite führte eine breite Steintreppe nach oben. Sie entschied sich für die Treppe und gelangte im ersten Stock zu einem langen Korridor, von dessen Wänden Tapetenstreifen herabhingen. Als sie den dunklen Flur entlangging, ließ ein Geräusch sie herumfahren. Doch es war nur ein Fensterladen, den der Wind zugestoßen hatte. Danach legte sich wieder eine erdrückende Stille über das Haus. Atemlos tastete sie sich Schritt für Schritt vor. Am Ende des Ganges entdeckte sie eine Tür, die einen Spalt geöffnet war. Ihr war, als würde in dem Raum dahinter Licht brennen. Als sie sich der Tür näherte, stieg ihr zusätzlich zum modrigen Gestank des Gemäuers ein süßlicher Geruch in die Nase, der ihr merkwürdig vertraut vorkam. Als sie die Tür vorsichtig öffnete und den Raum betrat, stellte sie fest, dass der Mond ihn durch ein zerschlagenes Fenster mit sanftem Licht erfüllte. Abgestandene Luft baute sich wie eine Wand vor ihr auf und sie hielt sich instinktiv die Nase zu. Aus alter Gewohnheit schloss sie die Tür hinter sich. In dem Zimmer stand ein Bett, das sogar noch mit einer staubigen Tagesdecke bezogen war. Auf dem Boden lag Unrat, aber auf eine eigentümliche Weise wirkte das Zimmer bewohnt. Dann entdeckte sie etwas, das ihr das Blut in den Adern gefrieren ließ. Sie schrie auf. Unter dem Bett ragte eine bleiche, menschliche Hand hervor, fast so beiläufig wie ein Teddybär, der heruntergefallen war. Doch das war echt, das war kein Spiel. Sie wusste, wem die Hand gehörte. Sie erkannte den schwarzen Ring sofort. Das war die Frau, nach der die Polizei seit Tagen fieberhaft suchte. Offenbar war die Befürchtung der Polizei wahr geworden: Sie war das achte Opfer des unheimlichen Frauenmörders, der immer noch auf der Flucht war und eine grauenhafte Blutspur durchs Land zog. Mit einem Mal wurde ihr klar, dass sie sich im Haus des Killers befand. Ein Knacken riss sie aus ihren Gedanken. Mit rasendem Puls wirbelte sie herum und starrte zur Tür. Als sich schwere, schleppende Schritte langsam näherten, hatte sie das Gefühl, ihr Herz würde jeden Moment aussetzen. Sie saß in der Falle. Panisch sah sie sich im Raum um und suchte nach einem Ausweg – doch es gab keinen. Ein widerliches Gemisch aus Schweiß, Angst und Verwesung lag wie eine klebrige Schicht über diesem Raum und nahm ihr die Luft zum Atmen. Die Schritte verstummten. Der Unbekannte schien nun direkt vor der Tür zu stehen. Er war so nah, dass sie sogar sein rasselndes Atmen hören konnte. Dann wurde mit einem Ruck die Tür aufgerissen.
Mit einer Zeitung unterm Arm stand dort Landwirt Wilhelm Hastenrath. Er trug eine lange, weiße Grobripp-Unterhose und ein ausgewaschenes Pyjamaoberteil. Seine Füße steckten in abgetragenen Stoffpantoffeln. Erstaunt sah er in das vor Schreck verzerrte Gesicht seiner Frau. Marlene Hastenrath stieß einen spitzen, schrillen Schrei aus. Reflexartig fuhr ihre Hand heraus und warf das Taschenbuch, das sie hielt, in hohem Bogen durch den Raum. Mit einem lauten Knall landete es an der Wand und rutschte von dort herunter wie ein Vogel, der gegen eine Scheibe geflogen war. Will rückte seine Hornbrille zurecht und sah seine Frau fragend an. Marlene wechselte vom Schreien zu einer unnatürlichen Schnappatmung und beruhigte sich dann langsam wieder. Sie strich sich mit der Hand durchs Gesicht. „Will. Musst du mich denn so erschrecken?“
Will verzog den Mundwinkel und sagte ärgerlich: „Was heißt denn hier erschrecken? Ich wollte nur sagen, dass ich nach Bett geh ... bist du etwa wieder so ein spannender Triller am lesen?“ Ohne eine Antwort abzuwarten, ging er zur Wand und hob das Taschenbuch auf. Er klappte es zu und las den Titel laut vor: „Der irre Frauenmörder mit der scharfen Klinge. Gerichtsmedizinerin Maria Schneider ermittelt.“
„Mareia Sneider. Das ist eine Amrikanerin“, sagte Marlene schnippisch. Sie stand auf, nahm Will das Buch aus der Hand und legte es auf ihren Nachttisch.
Während sie sich auf die Bettkante setzte, um sich ein Glas Wasser einzugießen, verließ Will mit einer wegwerfenden Geste das Zimmer. „Schlaf gut,“ presste er missmutig hervor.
„Schlaf du auch gut“, rief Marlene hinterher. „Hast du die Türkette vorgemacht?“
Will lag im Bett und starrte an die Decke seines Zimmers, in das er vor fünf Jahren gezogen war, nachdem seiner Frau plötzlich aufgefallen war, dass sein Schnarchen sie störte. Hastenraths Will, wie ihn alle im Dorf nannten, war zwar der Ortsvorsteher und der erfolgreichste Landwirt der kleinen Ortschaft Saffelen, doch gegen seine Frau konnte er sich nur selten durchsetzen. Sonst hätte er ihr längst verboten, abends immer diese Psychothriller zu lesen. Nicht etwa, weil er Lesen ablehnte. Ganz im Gegenteil, er las regelmäßig auf dem Klo mit großem Interesse die Tageszeitung, wenn auch nur den Lokal- und den Sportteil. Zu mehr reichte die Zeit nicht, schließlich hatte er einen großen Hof zu versorgen. Nein, es war vielmehr, weil sich mit dem Fall Pluto vieles verändert hatte in dem einst so friedlichen Dorf. Etwas über ein Jahr war vergangen,