Wie gerne hätte ich ihr in dieser feierlichen Stunde ihre ernstliche Bitte, die sie vor acht Tagen an mich gerichtet hatte, gewährt! Wie gerne hätte ich sie auf den sterbenden Erlöser hingewiesen und ihr zugerufen: «Gehe hin mit Frieden; deine Sünden sind dir vergeben!» Aber hier im Beichtstuhl war ich nicht Christi Knecht; ich durfte nicht Seinen göttlichen, heilsamen Worten folgen, noch dem, wozu mich mein eigenes Gewissen trieb. Nein, hier war ich der Sklave des Papstes! Ich musste die Regungen meines eigenen Gewissens ertöten und die göttlichen Eingebungen ignorieren. Mein Gewissen hatte da nichts zu sagen, die Vernunft musste schweigen! Ich hatte einzig und allein den päpstlichen Theologen Gehör zu schenken und ihnen unbedingt zu gehorchen. Ich war nicht da, um zu retten, sondern um zu verderben; denn unter dem Vorwand, die Seelen zu reinigen, ist es oftmals, wenn auch nicht immer, die wahre Aufgabe des Beichtvaters, auch wenn er dies gar nicht will, dass er den Seelen Anstoß geben und sie verdammen muss.
Nachdem der junge Mann, der mir zur Linken kniete, seine Beichte beendigt hatte, wandte ich mich zur Rechten und fragte die junge Dame durch das Gitterchen: «Sind Sie bereit, Ihre Beichte zu beginnen?»
Statt einer Antwort vernahm ich nur den Seufzer: «O Jesus, habe Erbarmen mit mir! Ich bin gekommen, um meine Seele in Deinem Blute zu waschen; willst du mich abweisen?» Mehrere Minuten lang richtete sie ihre Hände und Augen gen Himmel und weinte und betete. Offenbar bemerkte sie gar nicht, dass ich sie beobachtete. Sie glaubte, das Fenster des Beichtstuhls sei geschlossen.
Nachdem ich die in Andacht versunkene Person eine Zeitlang beobachtet hatte, klopfte ich leise an das Gitter und fragte nochmals: «Sind Sie bereit zur Beichte?» Jetzt schaute sie mich an und antwortete mit zitternder Stimme: «Ja, ich bin bereit.» Dann begann sie aber aufs Neue zu weinen und zu beten; ich konnte jedoch ihre Worte nicht verstehen.
Nach einigem Warten forderte ich sie wieder auf, ihre Beichte zu beginnen. Jetzt fasste sie sich und sagte: «Treuer Pater, Sie denken doch noch daran, was ich kürzlich von Ihnen bat? Können sie mir gestatten, mein Bekenntnis so abzulegen, dass ich dabei den Respekt nicht vergesse, den ich mir selber schuldig bin, so gut wie Ihnen und dem allwissenden Gott? Und können Sie mir versprechen, dass Sie mir keine jener Fragen stellen wollen, die mir schon solch unheilbaren Schaden zugefügt haben? Ich bekenne Ihnen offen, dass in mir Sünden wohnen, die ich niemand offenbaren kann außer Christus; denn Er ist mein Gott und weiß alles schon. Lassen sie mich zu Seinen Füssen weinen! Können Sie mir wirklich nicht vergeben, ohne dass ich zu meinen bereits begangenen Sünden noch weitere hinzufüge, indem Sie mich zwingen, von Dingen zu reden, von denen ich nun einmal nicht reden kann?»
«Meine teure Schwester», antwortete ich bewegt, «dürfte ich meinen eigenen Gefühlen folgen, so würde ich Ihrer Bitte mit dem größten Vergnügen entsprechen. Aber ich stehe hier als der Diener unserer heiligen Kirche, durch deren Verordnungen ich gebunden bin. Und diese lehrt mich durch ihre allerheiligsten Päpste und Theologen, dass ich Ihnen Ihre Sünden nicht vergeben kann, wenn Sie dieselben nicht allesamt und zwar so bekennen, wie sie von Ihnen begangen worden sind. Die Kirche verlangt, dass eine detaillierte Beichte abgelegt werde und sie befiehlt dem Beichtvater, dass er nach denjenigen Sünden frage, die etwa wissentlich oder unwissentlich mögen verschwiegen worden sein.»
Als ich solches sagte, schrie sie mit durchdringender Stimme: «Dann, o mein Gott, bin ich verloren, ewig verloren!»
Dieser Schrei ging mir durch Mark und Bein. Wer beschreibt aber meinen Schrecken, als ich durch die Öffnung des Beichtstuhles sah, dass die Unglückliche in eine Ohnmacht versank! Ich hörte, wie sie zur Erde fiel und wie sie im Fallen ihren Kopf auf dem Beichtstuhl aufschlug. Schnell wie der Blitz sprang ich ihr zu Hilfe, rief etliche Leute herbei, die in der Kirche zugegen waren und legte die Ohnmächtige mit deren Hilfe auf eine Bank, holte Wasser und Essig und wusch ihr damit das Gesicht. Sie war bleich wie der Tod, nur ihre Lippen bewegten sich und flüsterten die Worte, die niemand außer mir verstand: «Ich bin verloren, ewig verloren bin ich!»
Wir brachten sie nach Hause, zu ihren untröstlichen Eltern. Dort schwebte sie einen Monat lang zwischen Leben und Tod. Ihre beiden ersten Beichtväter wollten sie besuchen; sie wies denselben höflich und bestimmt die Tür. Mich bat sie hingegen, sie täglich zu besuchen; denn sie sagte: «Ich habe nur noch wenige Tage zu leben; helfen Sie mir in der Vorbereitung auf die ernste Stunde, da sich mir die Pforten der Ewigkeit öffnen werden!»
Ich besuchte die Kranke täglich und betete und weinte mit ihr. Immer wieder bat ich sie unter Tränen, ihre Beichte zu beendigen; aber sie verweigerte dies mit einer Bestimmtheit, die mich in Verwunderung setzte.
Eines Tages kniete ich an ihrem Bette nieder, um zu beten. Ich fand aber keine Worte, sondern konnte nur schluchzen. «Warum weinen Sie?» fragte mich die Kranke.
Weil ich Ihr Mörder bin!» erwiderte ich.
«Weinen Sie nicht um meinetwillen, sondern weinen Sie wegen der vielen Priester, die ihre Beichtkinder verderben. Ich glaube an die Heiligkeit des Sakramentes der Beichte», sagte sie, «aber etwas Unrichtiges muss doch daran sein, sonst wäre ich nicht dadurch zu Grunde gerichtet worden. Ich befürchte, wenn unsere Väter einmal dahinter kommen und erfahren, welchen Schaden ihre Töchter im Beichtstuhl nehmen, so werden sie furchtbare Rache an den Priestern nehmen.»
Ich konnte hierauf nichts erwidern, sondern weinte nur noch heftiger. Da reichte sie mir ihre Hand und sagte: «Weinen Sie nicht! Sie haben mir ja freilich durch Ihre Antwort, die Sie mir im Beichtstuhl gaben, einen heftigen Schlag versetzt; aber ich weiß, dass Sie nicht anders handeln durften, weil Sie durch die Vorschriften der Kirche gebunden sind. Und ich kann Ihnen sagen, dass der Sturm, den Ihre Antwort damals in meinem Innern entfesselte, mein Schifflein von dem bodenlosen Meer meiner Sünden in den Friedenshafen getrieben hat, wo Jesus meiner wartete und mir meine Sünden vergab. In der Nacht, die auf jenen Vorfall folgte, hatte ich einen Traum – nein, es war kein bloßer Traum, sondern Realität. Mein Jesus kam zu mir, blutbesprengt, die Dornenkrone auf dem Haupt und das Kreuz auf Seiner Schulter. Er sprach zu mir mit einer Stimme, so süß, dass sie keine menschliche Stimme nachahmen kann: Ich habe deine Tränen gesehen und dein Schreien erhört und ich weiß, dass du mich liebst: Deine Sünden sind dir vergeben; fasse Mut, in wenigen Tagen wirst du bei mir sein!»
Nachdem sie diese Worte gesprochen, fiel die Kranke in eine Ohnmacht. Da ich fürchtete, sie könnte sofort sterben, rief ich die Angehörigen, die auch alsbald herbeieilten. Man holte den Arzt. Er fand sie sehr schwach und erlaubte nicht, dass mehr als zwei oder drei Personen sich im Zimmer aufhielten, da die geringste Aufregung die Kranke töten könne. Es sei ein Bruch der Aorta, der großen Schlagader, die das Blut zum Herzen führt, zu befürchten; da könne der Tod von einem Moment zum andern eintreten.
Es war schon spät am Abend, als ich das Haus verließ, um die Ruhe aufzusuchen. Ich verbrachte jedoch eine schlaflose Nacht. Wie konnte ich den Gedanken an die Sterbende los werden, der ich den Dolch ins Herz gestoßen hatte, welchen die Kirche mir in die Hände gegeben? Sie sollte an gebrochenem Herzen sterben, mir aber erlaubte die Kirche nicht einmal, ihr einigen Trost und Hoffnung zu geben, nur weil sie die geforderte Beichte nicht abgelegt hatte! Ich hatte diese Pflanze unbarmherzig geknickt; aber das Mittel fehlte mir, die Wunden wieder zu heilen, die ich geschlagen hatte.
Ehe der Tag graute, machte ich mich wieder an meine theologischen Bücher, um noch einmal zu sehen, ob sich nicht ein Weg finden lasse zur Vergebung ihrer Sünden, ohne dass sie alles beichten müsse. Aber die Bücher schienen mir unerbittlicher als je, und ich stellte sie trostlos wieder auf das Brett.
Schon um 9 Uhr vormittags stand ich wieder am Krankenlager. Zu meiner Freude vernahm ich, dass es Miss Mary besser gehe. Ein Lächeln verklärte ihre bleichen Züge, als sie mir sagte: «Ich glaubte gestern Abend, der liebe Heiland wolle mich zu sich nehmen; aber ich muss Ihnen scheint’s noch mehr Mühe machen. Lange wird es freilich nicht