Andreas Barthelmess
Die große Zerstörung
Was der digitale Bruch mit unserem
Leben macht
Dudenverlag
Berlin
© 2020 Andreas Barthelmess
Für diese Ausgabe © Duden 2020 D C B A
Bibliographisches Institut GmbH, Mecklenburgische Straße 53, 14197 Berlin
Redaktion Dr. Ludger Ikas
Lektorat Malte Ritter
Herstellung Alfred Trinnes
Layout und Satz Schimmelpenninck.Gestaltung, Berlin
Umschlaggestaltung sauerhöfer design, Neustadt
E-Book-Herstellung und Auslieferung readbox publishing, Dortmund, www.readbox.net
ISBN 978-3-411-91312-1 (E-Book)
ISBN 978-3-411-74733-7 (Buch)
INHALT
1 Disruption ist jetzt. Was wir heute wissen müssen
2 Technischer Fortschritt, Globalisierung und Digitalisierung
3 Unser digitales Leben. Alles ist immer überall
5 Nutella-Deutschland ist vorbei
7 Polarisierung, Social Media und Welt ohne Gatekeeper
8 Instagram und die Macht der Ästhetik
9 Schizophrenie der Achtsamkeit
10 Monopole und das Plattform-Paradox
12 Bold Europe. Was wir jetzt tun müssen
1 DISRUPTION IST JETZT. WAS WIR HEUTE WISSEN MÜSSEN
Disruption bedeutet »Bruch«, und überall sehen wir technologische Umbrüche. Google statt Gelbe Seiten, Uber-App statt Taxi-Stand, Spotify statt CD. Klar, alles wird digital, das ist neu und radikal. Disruption, denken wir, ist ein technologischer Trend.
Falsch! Disruption ist viel mehr, sie ist das Phänomen unserer Zeit. Sie ist immer und uüberall und in allen Lebensbereichen: in Kultur und Konsum, Ökonomie und Gesundheit, Liebe und Ernährung – und vor allem in der Politik.
Donald Trump und Greta Thunberg sind zwei Seiten einer Medaille. Der Teufel mit Föhnfrisur, die Klima-Jeanne-d’Arc im Pippi-Langstrumpf-Look – in einem haben die Hater und Spötter recht: Chaoten und Heilsbringer, Narzissten und Autisten haben Konjunktur, und das global. So ist es in Großbritannien, wo Boris Johnson den Brexit durchgezogen hat, im Silicon Valley, wo der exzentrische Erfinder Elon Musk kinderrettende Taucher beschimpft, oder im Italien des Matteo Salvini, dessen Social-Media-Team sich »Die Bestie« nennt.
Die Welt ist digital. Greta hat bei Redaktionsschluss dieses Buches 4 Millionen Follower auf Twitter, Trump 70 Millionen, Kim Kardashian 157 Millionen auf Instagram. Sie alle umgehen die Gatekeeper der alten Welt und brechen mit den Regeln von früher. Sie alle kommen durchs Netz zu uns, einfach so, bis ins Klassenzimmer. Und nicht nur freitags. Der Narzissmus, der Trump und Kardashian antreibt, entspricht dem Rigorismus, mit dem Greta Thunberg auf die Welt blickt. Extreme digitale Virtuosen sind sie alle, ob um vier Uhr früh auf dem Klo twitternd oder um halb zehn in der Frühstückspause, wenn die anderen ins Butterbrot beißen.
Mitte der Neunzigerjahre: Ich sitze in einem Regensburger Betongymnasium mit halb schwebender Aufmerksamkeit hinten im Biounterricht, Thema Evolution. Aber plötzlich interessant, was Frau Troidl da erklärt. In ruhigen Zeiten ohne große Veränderungen, höre ich, sind die Angepassten im Vorteil. Extrembedingungen hingegen begünstigen ausgerechnet die schlecht angepassten Sonderlinge, das nennt man »disruptive Selektion«. Damals als Teenager denke ich: Oje, schlechte Aussichten für einen Schulversager ohne Barbour-Jacke, der immer noch auf eine bisher unbekannte Inselbegabung hofft!
Schlechte Aussichten also für Sonderlinge, denn die Neunzigerjahre sind in Bayern hyperkonform. Deutschland ist wiedervereinigt, der Kalte Krieg vorbei. Seine politische Spannung ist einer Post-Wende-Lethargie gewichen, in der allenfalls der Konsum ein wenig Abwechslung verspricht. Jahre des Stillstands. Edmund Stoiber gibt den bayerischen Law-and-Order-Sheriff. In der Schule gibt es für Kleinigkeiten schon Verweise, man hat ja sonst keine Probleme. Die Teenie-Mode ist amerikanisch-eskapistisch, mit Baseballcap obendrauf. Kulinarisch folgt man der Toskana-Fraktion von Schröder und Fischer. Die Küche rüstet mit Balsamico, Mozzarella und Cappuccino nach. Salat heißt jetzt Rucola. Das Eis wird besser. Manchmal kriegt man sogar schon »Gelato«.
Gegen die Wiedervereinigungslangeweile unternehmen wir überteuerte Sprachreisen nach London, um US-Turnschuhe oder Doc-Martens-Stiefel später stolz auf dem Schulhof vorzuführen. Schön, dass die Mark stark ist und das Pfund schwach! Popkulturell verläuft das Gefälle allerdings andersherum. Es gilt »cool Britannia«, Britpop ist ganz groß.
Kalifornien, wie wir es aus dem Fernsehen kennen, hätte noch besser zu unseren Träumen von offenen alten Autos, von Hornsonnenbrillen und Skateboards an der Strandpromenade gepasst. Aber noch ist für uns Regensburger Betongymnasiasten Kalifornien unerreichbar. Also legen wir uns ersatzweise ein Kurt-Cobain-kompatibles Hobby wie Schwarz-Weiß-Fotografie mit Dunkelkammer-Abzügen zu und bekleben Mix-Tapes auf total individuelle Weise mit Schnipseln aus Max oder GEO.
Die Sommeraufreger der Neunziger heißen Kaiman im Badesee – die Polizei schickt sogar Taucher – und abendliche Biergartenruhe für Anwohner. Schlüpfrige Details der Lewinsky-Affäre bringen endlich ein wenig Farbe in die Clinton-Präsidentschaft. Glamour gibt es nur im Trauerfall: Lady Di rast in einem Pariser Tunnel mit einem ägyptischen Playboy in den Tod. Die Extravaganz der Dekade verkörpert Guildo Horn. Was ich sagen will: Die »Berliner Republik« mit Adlon-Atmo, Berghain-Bums und Cookies-Coolness ist noch nicht in Sicht, erster Kosmopolit der Republik ist der Camembert-Kenner Uli Wickert. Alles bleibt sich ewig gleich, und nur Helmut Kohl läuft schon länger als Beverly Hills, 90210.
Und heute? Luke Perry und Helmut Kohl sind tot. Überall ist Disruption. Umbrüche, wohin man schaut: Nutella-Deutschland ist vorbei, die süße Sicherheit reihenhausbeheizter Gemütlichkeit, sie ist Geschichte.
Mit Start-ups und digitaler Disruption habe ich Geld verdient. Jetzt will ich verstehen, was eigentlich los ist, und mache mir Gedanken. Die politischen Meinungsbeiträge, die ich in den letzten Jahren für ZEIT, Neue Zürcher Zeitung, Handelsblatt, Spiegel und Welt geschrieben