Johanna verrückt die Geschichte. Sönke Bohn. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Sönke Bohn
Издательство: Readbox publishing GmbH
Серия:
Жанр произведения: Биографии и Мемуары
Год издания: 0
isbn: 9783347123496
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einem kleinen Erker, nach oben mit dem Dachboden und dann die Treppe runter zu einem wahrlich aufregenden Keller. Da werden lauter alte Sachen gelagert, denn weggeworfen wird fast nichts. Alte Sachen und Sehnsuchtsdinge. Abgelegte Kleider, gar ein türkisfarbenes, langes Abendkleid aus Satin – wer hat das wann getragen? – aber auch die Wintersachen mit dem Geruch von Mottenkugeln, Säcke, Kisten, von denen sie keine Ahnung hat, was drin ist, im Regal dann Marmelade und andere Vorräte in Gläsern und Dosen, gelbe Brechbohnen, Erbsen und Möhren, Weinflaschen und auch etliche große Spinnen, in den Ecken und am Fenster. Es riecht nach Kohlensäcken, obwohl schon lange nicht mehr mit Kohle geheizt wird, auch nach Kartoffeln, duftet nach Äpfeln: Kellergeruch. Johanna liebt Kellergeruch. Alle Keller riechen irgendwie ähnlich und damit vertraut. In den Kellern ist Segen und Fülle. Und die Zeit steht in ihnen irgendwie still, man ist dort ziemlich sicher.

      Hinter dem Haus befindet sich ein weiter Garten mit schönen Bäumen. Alte Apfelbäume, auch ein Birnbaum, etliche Johannisbeersträucher, rote wie schwarze, ein paar Stachelbeeren, dahinter ein kleiner Kartoffelacker, näher am Haus die kleine Sandkiste zum Spielen.

      Dort, wo die Siedlung endet und lange Zeit ein Bolzplatz war, leben nun seit einigen Monaten in „Schwalbenhütten“ – kleinen, schnell errichteten Baracken – große Familien, zu zehnt, manchmal sind es noch mehr. Die Kinder haben glänzende, Johanna faszinierende, blauschwarze lange Haare, dunkle Augen.

      Gestern hat sie einem Mädchen zugewinkt. Das Mädchen hat ihre Schwester angeschaut und dann zurückgewinkt. Da haben sich alle drei gefreut.

      „Da sind zwei Mädchen, die haben ganz schöne, ganz schwarze Haare, die haben mich so nett angelächelt, ich glaube, sie würden gerne mit mir spielen.“

      „Nett zu dir? Schwarze Haare sind doch nicht schön. Ja, die haben viele Kinder zum Spielen, wer so viele Kinder hat, nein, man kann nie wissen. Wo die wohl herkommen, da sind wir lieber vorsichtig, die bringst du mir nicht mit nach Hause. Hast du gehört?“

      „Aber Mama, du kennst doch das Lied ‚Lustig ist das Zigeunerleben‘?“ – „Ja, das kenn ich, das ist ein Lied, nur ein Lied, verstehst du nicht? Zu den Zigeunerkindern gehst du mir nicht hin und bring ja keinen von denen mit nach Hause. Die klauen uns dann nur die Löffel.“

      Fremdes hat für Johanna dennoch etwas Schönes, ja kribbelnd Geheimnisvolles. Darum ist sie traurig über das, was die Mama sagt. Die braune Haut, die schönen, glänzenden Haare und die schwarzen Augen mag sie wirklich sehr, sie würde sie gerne anfassen, die Haare, die Haut. Papa und Mama tun doch alles Mögliche, um im Sommer auch braun zu werden. Und die Mädchen sind schon einfach so schon schön braun. Warum haben Mama und Papa davor Angst? Warum sind sie nicht wenigstens normal wie zu den anderen Nachbarn und grüßen sie? Wir wissen ja gar nicht, wie die heißen, die werden doch wohl auch eigene Namen haben. Gefährlich scheinen die Kinder nicht. Sie rücken einem nicht auf die Pelle, sie ärgern und bedrohen nicht, sie lachen, singen, hüpfen und sind freundlich, einfach nur anders artig. Komisch, dass die nicht mit mir zur Schule gehen.

      Vor allem Mama muss immer alles verbieten oder bekritteln. Wirklich oft, aber gar nicht mal nur was mit den „Zigeunern“. Wie die anderen Frauen mit ihren Männern zusammen sind, mit ihnen umgehen. Dann auch, was sie anhaben, wie sie wahrscheinlich kochen und essen, wie sie so leben. Dass der Postbote bei Frau Sch. immer ziemlich lange bleibt. Was ähnlich ist, ist nicht so wichtig wie das, was eben nicht ähnlich ist. Irgendwas ist eigentlich immer zu viel – oder sonst eben zu wenig. So richtig Freude an anderen haben, das scheint gar nicht zu gehen. Wichtig ist, dass man ordentlich ist und die Sachen richtigmacht, so wie es sich gehört.

      Die Mutter hat es gerne eindeutig. Man weiß dann, wer man ist, kann sich an sich halten, sich einrichten und böse Überraschungen vermeiden, am besten ganz ausschließen, dann kann man sich auf die wichtigen Dinge konzentrieren. Sonst müsste man ja immer grübeln. Es ist so und so, das ist gewiss. Es ist so, wie es ist, ganz bestimmt, dann hat man Gewissheit und Ruhe. Wenn man dauernd über solche Es-könnte-auch-anders-artig-sein-Sachen brütet, wer weiß, ob sie dann nicht etwa noch schlüpfen? Was dann? Irgendwie ist es wichtig, dass man weiß, wer man ist. Wo man hingehört, zu wem man dazugehört und nicht abweicht.

       4

      Johanna fühlt, dass sie nicht so ganz eindeutig nur die Tochter und Schwester, das Mädchen Johanna ist. Zunächst im Hinterkopf, dann auch weiter unten vermutet sie eine handfeste Erweiterung. Kurz über ihren Pobacken ist da eine kleine Delle, die kann sie nicht sehen, wohl aber tasten. Dabei denkt sie, sie trage in sich verborgen einen nicht mitgewachsenen, ungeborenen Zwilling. Halbwegs ausgebildet und klitzeklein, dennoch ganz da. Ob es ein Johannes oder eine Johannina ist – egal. Da ist das Kleine drum herumgewölbt und schlummert vor sich hin, also halb da und dann wieder auch nicht. Nicht als Reservekind, sondern dummerweise oder schicksalhaft zu früh ausgebremst, ein komplexes Gefühl.

      Keine Ahnung, wo sie das nun wieder aufgeschnappt hat, aber sie hegt und hätschelt die Idee, dass da ein Zwilling, ihr Zwilling drinsteckt. Der hat irgendwann aufgehört zu wachsen und nun trägt sie ihr Geschwisterkind mit durchs Leben. Ist sozusagen ihres Bruders Hüter. So etwa wie: Eigentlich sind wir dann schon zwei. Und zwei dürfen auch zweideutig sein.

       5

      Bald – Johanna geht schon eine Weile zur Schule – fängt sie an, erst ihre Puppen und dann sich zu verkleiden. In einer fremden Hose, einem fremden Hemd ist mehr versteckt als nur eine kleine äußerliche Abwechslung. Ein Leibchen überzuziehen wird zu einer kleinen Entrückung, sich eine Überhaut überzustülpen die Gelegenheit geben, sich in ein Anderssein, vom Gewohnten in ein Fremdvertrautes, einzufühlen. Statt Reinkarnation: Reinvestition, großartig: Man ändert sich etwas und kommt sich dabei näher, weil das ja gleichbleibt, das Untendrunter sich ja nicht auch noch ändert, nur die Haut. Es wird nur anders ausgeleuchtet und erfährt neue Möglichkeiten, Selbst zu sein. In den Schachteln im Keller findet Johanna die von den großen Brüdern abgelegten alten, nicht zu großen Hosen; Hosenträger und Mütze borgt sie sich aus.

      Sie schnappt sich die Sachen, zieht sie an, krempelt eine Hose hoch zum Knickerbocker, lässt das Hemd ein wenig offen, dazu ein Halstuch, die leider noch etwas zu großen Schuhe schnürt sie etwas fester, und posiert dazu passend mit einem breiten Schritt. „Schaut mal, wer ich bin“. Aufmarsch zum Kaffeeklatsch, da kommen alle Kollegenfrauen, jede zweite Woche, immer reihum. Die Damen sind etwas verwundert, huch, was macht sie denn, dein Mädchen? Mutter lacht, wird rot im Gesicht, redet etwas viel dabei, aber es bleibt bei Satzanfängen, sie stammelt, vor allem aber nimmt sie die Kleine bei der Hand und führt sie wieder hinaus, möchte, dass das Kind ihr jetzt ganz tief in die Augen schaut, und sagt etwas, das Johanna, ganz verdutzt, gar nicht versteht. Weshalb ist es der Mutter so peinlich? Was war das denn? Hab’ doch nur gespielt.

      Später – die Gäste sind schon gegangen – will die Mutter es dann doch noch genau wissen. „Du willst Hosen tragen? Weshalb willst du Hosen tragen? Wenn Großvater das sieht! Großvater will das nicht, das gehört sich nicht.“ Und: „Nein, die Zöpfe bleiben dran. Das ist doch sooo flott mit deinen Zöpfen.“

      Johanna irritiert Mamas übertriebene Aufwallung. So pingelig, und immer gibt es so ein Spektakel. Andauernd und zu den unmöglichsten Gelegenheiten. Da geht die Welt doch nicht von unter. Sie versteht nicht, warum die Mutter verlegen wird. Ist doch normal, man will doch mal was ausprobieren und ist neugierig. Wieso die Nase rümpfen, und wenn doch, wieso über so etwas?

      Aber auch das „Pfui, die schmusen auf der Straße!“, die langen Koteletten von Herrn Schnur, seine weißen Autoreifen, die dick geschminkten Wimpern von Frau Sassner: Sich über sowas Nebensächliches empören ist schon komisch, kommt aber täglich vor und bestimmt damit einen Großteil des Lebens. Ohne „Huch?!“ empören, empören, empören. Da gibt es einen riesigen Katalog von „Tut man – tut man nicht“. Auf Zettel aufgeschrieben wären es ganze Badewannen voll. Man kann sehr viel falsch machen und eh man sich versieht, ist man aus dem Rahmen gefallen. Man mag sich gar nicht vorstellen, was dann wäre! Hingegen: Uniformen, die sind schneidig! So wie auf den Fotos der im Krieg gefallenen Brüder, ziemlich stramm. Johanna aber kennt kaum Leute in Uniform. Nur den Herrn Papp, das ist unser Polizist. Der aber ist nicht schneidig, der ist feist.