Tine soll schon so sein, wie sie ist, für Klaus, die anderen alle aber sollen besser stramme deutsche Mädchen sein. Blonde Zöpfe, fröhlich und immer strahlen, um jeden Preis. Er hat da so seine Vorstellungen: Kochen können ist von Vorteil, Männer in Ruhe lassen, vor allem, wenn sie trinken, ein Gebot, und: Politik geht sie ganz allgemein nichts an, denn davon verstehen die nichts, die Frauen. Da gibt’s klare Ansagen, gar nicht einmal mit irgendeinem Nachdruck, das ist schon einfach ganz selbstverständlich. Klaus sieht das einfach so, es ist seine völlig ungetrübte Meinung. Die Leute, die anderer Meinung sind, kommen nicht so gut weg. Undenkbar, dass Tine nicht einstimmt. Sie ist schon ganz seine Tine, die sind echt ein Paar. Und Streit zwischen den beiden hat Johannchen noch nie mitbekommen.
Über das komische Erlebnis am Deich redet Johanna nicht mit den beiden. Sie kennt sich da schon aus, ahnt, was Klaus beizusteuern hätte.
Er sagt gerne mal: „Jawoll, mein Führer!“ Mit Schwung und Schmiss, auch zu Tine, auch zu ihr, der kleinen Johanna, wenn sie irgendetwas Niedliches will. Darüber aber zu reden – kein gutes Thema.
2
Johanna ist, obwohl nicht eigentlich sportlich und geschickt, doch körperlich vielen ihres Alters überlegen. Mit zwei Brüdern zu Hause muss man schon etwas wehrhaft sein – sie ist es. Rolf und Torsten sind in den Ferien bei Tante Anna in der Heide. Wahrscheinlich werden sie meist draußen mit den kurzen Lederhosen durch Wald und Heide hüpfen, herumrennen, irgendwas im Wald machen, mit Tannenzapfen werfen, schnitzen, nach ein paar Tagen auch Pfeil und Bogen bauen, mindestens, auch Ameisen in ihren Haufen ärgern, aber nur einmal und nur ein wenig. Spechte klopfen hören und sie dann suchen. Täglich, außer sonntags, für Tante Anna die Einkäufe im Konsum machen und ebenso täglich, auch außer am Sonntag, etwas Holz sägen. Hacken dann eher nicht, das musste Tante Anna Mama versprechen. Wahrscheinlich vergnügen sie sich auch bei etwas unerlaubten Unsinn. Rolf, der große Bruder, hat sich von Sylvester ein paar Knaller aufgehoben und die haben da im Dorf unter den Bahnschienen so eine tolle, richtig lange Unterführung, klasse zum Zwecke eigener guter Unterhaltung. Da macht schon ein kleiner Knaller richtig was her. Frauenfürze nennen sie die kleinen Knaller. „Frauenfürze“, das finden sie beide sehr lustig, kichern und lachen dann und kriegen sich kaum wieder ein.
Die kleine Schwester, „das Hannchen oder die Hanne“, hat kräftiges Haar, ein blond-hellbrünetter Mix, und feste Zöpfe. Sie ist ein munteres Mädchen, quatscht gerne und ist, seit sie es kann, eine ausgemachte Leseratte. Sie hat drei gute Freundinnen, eine in der Nachbarschaft in der Siedlung und zwei andere aus der Klasse, die wohnen etwas weiter weg. Die eine heißt auch Johanna, es ist wohl das Johannazeitalter, die andere heißt Brigitte. Auch davon gibt es mehrere. Die sind alle anders, sich aber auch ein bisschen ähnlich. Brigitten halt. Von den Sabines ganz zu schweigen.
Während der Schulzeit nach Hause kommend, wird unsere Johanna meist zum Tischdecken gebeten und wenn es noch etwas beim Kochen zu tun gibt oder die Abfälle auf den Komposthaufen hinten im Garten gebracht werden sollen, wird sie dahin bestellt oder geschickt. Sie geht gern zur Hand, hört ebenso gern ein wenig Musik, interessiert sich auch für die Nachrichten. Es gibt leider nur ein Radio im Haus. Der große Bruder – immer ist es Rolf – hat da das Zepter in die Hand genommen, gibt vor, was man hören kann, ohne dass es peinlich ist. Er macht Ansagen, was geht und was nicht geht, geschmacklich. Deutsche Schlager zum Beispiel, das geht eher nicht, weil: schnulzig. Er ist nicht so der Träumer und für deutsche „Schnulzen“ muss man schon ein Träumer sein – und die Geschwister sollten es auch nicht sein – zumindest, wenn sie nicht in den Streubereich seines Spotts kommen wollen. Da ist also dieses und jenes schon mal tabu. Wenn er jemanden dabei erwischt, dann findet er schnell ein paar Worte, die weh tun. Von halb zwei bis zwei Uhr ist Mittagspause beim Sender und auch Ruhe im ganzen Hause. Ist die Zeitung frei – erst der Papa, er kommt meist mittags nach Hause – blättert sie gerne ein wenig darin. Aus aller Welt, letzte Seite, man muss die Zeitung nur umdrehen, und: kleine Bildgeschichtchen von irgendwelchen Wikingern mit voll viel Ehekrach in fünf Bildern und die Peanuts, die mag sie.
Wird’s dann ganz still, steigt sie hoch in ihr Zimmer, die ziemlich steile Treppe rauf. Johanna schnappt sich dann ein Buch, streckt sich auf dem Bett aus, gerne die Lieblingsdecke mit den Pferden drüber und – liest.
Mittags, später wieder und auch mal nachts, dann auch mal unter der Decke.
3
Johanna, auch mal „Süße“, Hannchen oder, seltener, Hanni wird sie von ihren Eltern, Verwandten – also auch von Klaus und Tine – der Bäckersfrau, den Nachbarn und Herrn Schulze, dem Lehrer genannt, eigentlich von allen. Sie kennen Johanna scheinbar besser als sie sich selbst.
So gut gekannt zu werden soll Eindeutigkeit schaffen und vermitteln. Und für die, die sie nicht kennen, ist sie einfach mal so ein Mädchen, mit Gummitwist, Poesiealbum und Pferdebildchen – und so weiter.
Das ist manchmal lästig, denn: Hanna ist schon ein Kind, aber irgendwie nicht nur. Und sie ist auch ein Mädchen, aber nicht nur. Sie ist auch eine kleine Schwester, aber eben nicht nur. Auf jeden Fall nicht nur nett und niedlich, sondern auch mal ernst. Oder verzweifelt. Oder manchmal auch einfach sehr einsam.
So bekommt Johanna, obwohl sie ein ziemlich normales Mädchen aus der Doppelhaussiedlung ist, einen zweiten, provisorischen Namen: „Thoulasith“.
Der Name Thoulasith ist an sich eher bedeutungslos. Aber, es ist schon ein bisschen kompliziert, dass es bedeutungslos sein muss. Und genau so ist, genau so passt. Es könnte ja auch ein anderer Name sein, Lea zum Beispiel, oder David, und schon gar nicht Sara oder Israel. Das eben könnte zu einer unangemessenen Orientierung, ja einengenden Festlegung führen. Denn auch diese andere, verborgenere Seite ist komplex. Der andere Name soll uns ja zunächst nur ein wenig unterstützen, helfen, anzuerkennen, dass sie sich als Johanna mit einem mit ihrer Umgebung wenig harmonierenden, ja fremdelnd-komplizierten Innenleben, nun „Thoulasith“ genannt, zurechtfinden muss.
Und ein Innenleben haben ist so eine Sache – und erst dieses Innenleben sein! Die Erwachsenen haben sowas ja bestimmt auch, heimliche Sachen, viele verborgene Dinge, mal „Leichen im Keller“, irgendwelche „Ich-will-das-vergessen-Sachen“ die einen, irgendeinen Knall, der sich immer wieder in den Alltag hineinmischt, die anderen. Schambesetztes hier und vermeintlich oder tatsächlich normverletzende „Abweichungen“, Sachen, über die man mit niemandem spricht, da. Und unheimliche Heimlichkeiten. Aber vielleicht sind das ja nicht nur angeklebte Eigenschaften.
Doch wie den Nachbarn und Kollegen, der Verwandtschaft begegnen, wo jeder doch wissen oder ahnen kann, dass da noch etwas anderes hinter einer noch so biederen Fassade schlummern muss oder sich gar ganz munter herumtrollt!! Das strebt niemand an. Und dann erst einem Kind gegenüber!
So hat schon das junge Mädchen „normale“ Johanna-Erlebnisse, und darin hineingemischt sowohl sie selbst als die anderen irritierende Erlebnisse und Auftritte „Thoulasith“ benannt. Die kommen einfach so, sind dann einfach da und sie mit einer Art Schalter abzustellen geht nicht. Sie quellen auf, schaffen sich Platz und besetzen das Terrain und schwellen dann auch wieder ab.
So gibt es für Johanna die normalen oder allgemeinen Erlebnisse, die sie mit ihrer Umgebung teilt und die von ihrer Umgebung wohlwollend anerkannt und positiv aufgegriffen werden: die Freude an einer Blume, das Mitgefühl mit der gegen die Fensterscheibe geflogenen armen Meise, genervte oder aufgeregte Bemerkungen zum Schulweg, der Schmerz über den Wespenstich, die Papaliebe, Spaß am Gummitwist und Seilspringen, Pferdeposter an der Wand, Kaugummi und Ahoi-Brausepulver, Winnetou, Penny Lane und, wenn Rolf es nicht mitbekommt, auch mal Alexandra oder Michael Holm hören, denn der sieht, wie sie findet, klasse aus und seine Augen strahlen und Alexandra hat so ein schön trauriges Lied über Bäume gesungen. Johannas erster Ohrwurm. Mein Freund, der Baum, dubidum, dubidum, ist tooht. Auch wenn sich dadurch die kleine Schwester deutlich als Dummchen entpuppt. Deutsche Lieder,