Wenige Augenblicke später kehrt sie zurück und setzt sich zwischen die zwei Mädchen. „Der Große schläft tief und fest, dass es eine Freude ist. Euer Vater sucht zwar immer noch den Bader oder den Medikus, aber den werden wir wohl nicht mehr brauchen.“ Sie drückt die Töchter an ihre Brust und beginnt, leise zu deklamieren:
„Die Wagen zogen mächtig schwer
durch Täler und über die Berge
vom Saalefluss im alten Land
zum Pleißenland in gewaltiger Stärke.
Der Hildebrand, den Riesen gleich,
führt er die Siedler ohne Zagen,
doch die Hildburga, die weise Fee,
sie wusste stets zu sagen
wie der Götter ihr Begehr
hilft unser Los zu tragen.
Das Volk war niemandes Untertan,
einziger Herr war der König,
der sie in dieses Land geholt,
das kränkte die Fürsten nicht wenig.
Doch war der neue Bauersmann
gekommen zu des Reiches Schutze
Seit an Seite mit des Königs Heer
der Ungarn Mächtigkeit trutzet.
Der Hildebrand ein Bauer war,
das Schwert war ihm nicht geläufig,
da rettet ihn die weise Frau
wie damals nur allzu häufig.
Sie gab ihm den Rudolf mit,
den Recken, den sie gefunden.
Der führt die Bauern in Sturmgebraus,
hat die Ungarn letztendlich geschunden.
Doch als der große Kampf vorbei,
jagt man Rudolf von hinnen.
Den Streit um den ersten Platz im Dorf,
Hildebrand wollt‘ ihn gewinnen.
So verdarb Hildburga, die weise Frau.
Es blieb nicht Rudolf der Hauptmann der Bauern.
Doch alle hundert Jahre sie wiederkehren,
erfahren wir mit Schauern.
Doch wenn dereinst die Gerechtigkeit gesiegt
und nicht das Gold in der Truhe
ist der Menschheit höchstes Begehr,
dann finden die zwei ihre Ruhe.“
Elisabeth kuschelt sich an den Arm ihrer Mutter. „Das war schön, schade, dass es schon zu Ende ist.“ Magdalena erwidert den Druck des Mädchens ganz zart. „Ach, weißt du Lisa, diese Ballade ist noch viel länger. Sie erzählt die Geschichte von unseren Vorfahren seit uralten Zeiten und reicht fast bis in die Gegenwart. Immer wenn etwas Entscheidendes passiert ist, wird ein neuer Teil dazu gedichtet, so dass unsere Geschichte nicht vergessen wird. Leider sind es nur wenige Familien, die dieses Lied weitergeben und so vor dem Vergessen bewahren.“ Elisabeth überlegt kurz und bemerkt dann: „Die Geschichte muss eben aufgeschrieben werden. Du kannst doch schreiben, Mutter, warum bringst du dieses Lied nicht zu Papier?“
Fast mädchenhaft hört sich Magdalenas Lachen an. „Ach Lisa, erstens reicht meine Schreibkunst nicht so weit, dass ich hunderte Strophen niederschreiben könnte und zweitens habe ich gar nicht so viel Zeit, denn Mutter von vier Rangen zu sein, einen Haushalt zu führen und als Meisterin dem Meister zur Seite zu stehen, dass lässt mir die Zeit wie im Fluge vergehen.“
Johanna war bis hierher still, doch nun will sie auf den Punkt kommen. „Die Ballade war ja ganz schön, Mutter. Aber was hat das Ganze mit unserem Kräuterweib zu tun? Und wieso verwechselt diese unseren Ruprecht mit jenem Rudolf?“
„Ach weißt du, die Mutter Mechthild entstammt einer uralten Familie, der nachgesagt wird, ihre Frauen seien sehr weise. Ihre Vorfahren waren wohl mit der Hildburga aus dem Lied verwandt. Wenn es auch nicht sehr gern von unserem Herrn Pfarrer gesehen wird, gehen dennoch viele Menschen zu ihr, wenn sie krank sind, denn sie vermag Kranke zu heilen. Zweifelsohne kann man auch sie zu den weisen Frauen zählen. Als unser Ruprecht auf die Welt kam, war Mutter Mechthilde ganz närrisch vor Freude, denn sie glaubte damals, der Bauerngeneral Rudolf aus unserem Lied wäre in unserem ersten Kind wiedergekehrt. Seit diesem Tag ist mir ganz bang um sie und um unseren Ruprecht. Wenn diese Mär auf die Ohren der heiligen Inquisition trifft, wird man hier Scheiterhaufen errichten. Sprecht also nicht über diese Sache. Es könnte sowohl die Mutter Mechthild als auch unserem Ruprecht zum Schaden gereichen.“ Verschwörerisch zwinkert sie ihren Töchtern zu und schiebt sie dann von sich. „So, Mädels, jetzt gebt Ruhe. Ich muss mich wieder kümmern, von allein erledigt sich meine Arbeit nicht.“
Dieses Ansinnen steht natürlich ganz entschieden gegen die Vorstellungen der wissbegierigen Johanna. Alle Enttäuschungen dieser Welt scheinen sich auf ihrem zarten Gesicht zu verewigen und mit Schmollmund und bettelndem Blick sucht sie die Mutter zu überreden. „Erzähl doch noch, wir helfen dir dann auch und so wird die Arbeit auch noch rechtzeitig fertig.“ Magdalena lässt ihre schön gezeichneten Augenbrauen nach oben schnellen. „Das wöllte ich zu gern sehen, wie du mir bei der Arbeit hilfst, dass ich schneller fertig würde. Bislang ist dir dieser Geniestreich noch nie untergekommen, du verkehrst alle Arbeit zum Spiel, meine Süße. Na ja, spinnen und weben kannst du recht gut, aber eben das muss gerade nicht getan werden.“
Von diesen Worten fühlt sich die Elfjährige über die Maßen hart getroffen. „Das ist gemein, Mutter! Ich habe heute schon die Stube gefegt, den Topf geputzt, die Asche aus dem Herd genommen …“
Weder Häme noch Bosheit liegt im Lachen der Mutter, als sie dem Kind die Haare zerzaust. „Ja, eben, in der Reihenfolge, mein Spatz! Die gefegte Stube ist nun sorgsam und ebenmäßig mit Asche bestreut.“
Puterrot wird Johannas Gesicht und Tränen der Scham treten in ihre Augen. Warum in aller Welt muss solches Ungemach immer ihr widerfahren? Enttäuscht will sie sich abwenden, da springt Elisabeth für sie in die Presche. „So schlimm kann es gar nicht sein. Ich habe gesehen, wie sorgsam das Hannel zu Werke gegangen ist. Hätte sie zu viel Asche aufgewirbelt, wäre ich gewiss deutlich geworden. Aber ich habe einen Vorschlag: wir gehen dir jetzt zur Hand und du erzählst uns heute Abend weiter, denn das interessiert mich auch.“
Magdalena gibt sich, als wäre sie sehr empört und nur die lachenden Augen lassen ihre wahre Gemütslage erkennen. „Was denn, wird das hier eine Meuterei? Ihr seid zu zweit, ich aber bin ganz allein, wie soll ich mich da erfolgreich zur Wehr setzen können? Also gut, ich gebe mich geschlagen. Heute Abend setzen wir uns an das Spinnrad und ich erzähle.“ Jubelnd laufen die Mädchen ins Haus. Bei Preschers wird nicht alle Tage gesponnen, aber wenn, dann ist es für die Mädchen immer wieder ein Höhepunkt. Die Mutter seufzt und wischt sich die Hände am Kittel ab. Die Sorge um ihren ältesten Sohn legt sich schwer auf ihre Brust und nichts von der eben empfundenen Leichtigkeit bleibt in ihrem Inneren zurück.
Leise