Die ältere Schwester muss ihr wohl oder übel recht geben, dennoch ist ihr sehr daran gelegen, die respektierte Klügere zu sein. „Trotzdem beschuldigt man niemanden einfach so der Hexerei!“
Derart mit Klarheit versehen setzen die beiden Mädchen gewichtig den Weg fort. Es sind noch wenige Schritte bis zum Haus des Kräuterweibs zu gehen, da schließt Martha zu ihnen auf. „Na, ihr beiden, wo wollt ihr denn hin, ist etwas passiert?“ Nicht die Anwesenheit der Schuhmachertochter verwundert die Schwestern, sie hatten sie ja vorhin bemerkt, die Frage erstaunt sie. Wie kommt Martha darauf, dass etwas passiert sein könnte?
„Wie meinst du das, was sollte passiert sein?“, fragt Johanna ganz und gar unschuldig. Martha jedoch will in ihrer Unruhe nicht erst lange taktieren und so fragt sie frei heraus: „So panisch wie ihr aus der Stadt gerannt seid, muss etwas passiert sein. Also kommt, sagt schon, was los ist!“
Elisabeth mustert die Ältere von unten herauf. „Ja, du hast recht, der Ruprecht hat sich verletzt und wir besorgen ein paar Heilkräuter.“
„Du meine Güte!“ Der erschrockene Ausruf Marthas lässt auf eine ehrliche Sorge schließen und ihre heimliche Liebe macht das glaubhaft. „Erzählt schon, was ist passiert?“
Haargenau schildert die Ältere der Schwestern das Vorgefallene und Martha kommt nicht umhin, mitfühlend zu seufzen. Johanna beobachtet still die Nachbarstochter und fragt schließlich ohne jede Hemmung in ihrer äußerst direkten Art: „Was leidest du denn so mit Ruprecht? Bist du in ihn verliebt?“ Dabei reißt sie die nussbraunen Augen weit auf und blickt geziert nach oben in das klare Blau des Himmels.
Martha läuft tiefrot an und bemüht sich, durch angestrengtes Husten die Peinlichkeit des Augenblicks zu überspielen. Endlich erwidert sie bewusst flapsig: „Wie kommst du denn darauf? Ich bin nur ein wenig in Sorge.“ Johanna aber kichert in kindlicher Rücksichtslosigkeit gegenüber dem jungfräulichen Liebesempfinden: „Martha ist in Ruprecht verknallt! Heirate ihn doch, dann bekomme ich vielleicht ein Paar neue Schuhe von deinem Vater.“
Mit der flachen Hand gibt ihr Elisabeth einen Klaps auf den losen Mund. „Du bist ein kleines, dummes, freches Ding!“, rügt sie ihre Schwester und ahnt doch, dass diese recht hat. Johanna war schon immer eine aufmerksame Beobachterin. Martha hingegen weiß nicht, wie sie sich verhalten soll. Ungehalten faucht sie: „Quatsch, du dummes Gör!“ Hastig dreht sie sich um und läuft zur Stadt zurück, während die zwei Mädchen endlich an Mechthilds Tür klopfen.
Als auch nach dem zweiten Klopfen kein Geräusch aus der Hütte dringt, eilt Johanna ungestüm um das alte Gebäude herum, um die Alte vielleicht im anschließenden kleinen Gärtchen zu entdecken. Das schmale Geviert ist so dicht von Pflanzen bedeckt, dass nur ganz vereinzelt der Boden zu erkennen ist. Allerlei Getier tummelt sich im satten Grün und in der bunten Farbenpracht der Blütenvielfalt. Unter einem knorrigen Apfelbaum lehnt sich eine altersmüde Bank an den schorfigen Stamm und wehrt sich allein durch ihr Aussehen gegen die ursprünglich angedachte Nutzung. Weiter hinten verhindert eine dichte Hecke den Blick auf die Melancholie des Friedhofs, der sich von Sankt Johannis her erstreckt. Seitlich ab ragt eine Birke stolz und wie am Lot gezogen in den Himmel. Allein die Besitzerin des ärmlichen Anwesens ist nicht zu entdecken. Das Mädchen versucht, einen Blick in das Innere der Hütte zu werfen, doch die hautbezogenen winzigen Fenster lassen nichts erkennen. Der fast quadratische Grundriss des Hauses verrät, dass hier kein Stall den Tieren Unterkunft gewährt, in dem man die Alte vermuten könnte. Mutter Mechthilds ganze Aufmerksamkeit gilt den Pflanzen.
Johanna kehrt auf die Dorfstraße zurück und sieht die Gesuchte bei ihrer Schwester stehen. Offensichtlich kommt sie gerade aus dem Wald, denn auf dem Rücken ragt ihr eine Kiepe über den Kopf hinaus, aus der dürre Äste zum Himmel weisen. Vor dem Bauch baumelt ein Beutel, in dem sie vermutlich Pflanzen und Wurzeln verstaut hat. Das runzlige Gesicht mit den klugen Augen wird von einem freundlichen Lächeln verschönt, das den Mädchen Vertrauen vermittelt. Wahrscheinlich ist sie soeben eingetroffen, denn Johanna hört gerade noch die Begrüßungsworte: „Na, so etwas, wer besucht ein altes Weib wie mich? Und dazu noch im Doppelpack. Wenn ich mir die Gesichter so ansehe, dann seid ihr die Prescher-Mädels, stimmt’s? Da gucken doch Magdalena und Hans aus euch heraus.“
Die Schwestern freuen sich sichtlich, dass die Alte sie zuordnen kann, denn sie haben sich höchst selten gesehen. Mechthild vermeidet es tagsüber nach Möglichkeit die Stadt zu betreten. Die Hütte der Kräutersucherin hingegen ist an sich kein Ziel für Mädchenausflüge.
„Was führt euch zu mir?“, setzt sie fort. „Wenn euch die Mutter schickt, kann es nur einen Unfall gegeben haben. Also: Wer hat sich verletzt und wie?“
Elisabeth schaut die Frau sehr erwachsen an und erwidert: „Unser Ältester hat sich etwas zugezogen. Der Stechbeitel ist ihm von der Seite her in den Bauch gedrungen. Mutter hat ihn aber herausgezogen.“
Das Kräuterweib blickt sehr ernst, als sie verstehend nickt. „Habe ich es mir doch gedacht, der Rudolf ist ein Wiedergänger“, flüstert sie gerade so laut, dass es Elisabeth eben noch verstehen kann. Fragend blickt sie die Alte an, die aber scheint den Blick nicht wahrzunehmen. „Kommt mit in mein trautes Heim, ich will euch schon das passende Kräutlein zu finden wissen.“ Sie tritt neben die Tür und lässt sich von den beiden Mädchen die schwere Kiepe vom Rücken nehmen.
In der Luft des Hauses liegt der würzige Duft unzähliger Kräuter und Wurzeln, die unter der niedrigen Decke des Zimmers hängen. Auf Wandborden finden sich Töpfchen und Becher, deren Inhalt durch Deckel geschützt ist. Auf einem massiven Tisch steht ein Mörser mit Stößel und wartet nur darauf, die Kräuter zu zerkleinern. Ohne allzu lange suchen zu müssen, greift sich Mechthild eines der Töpfchen und schüttet ein wenig von dessen Inhalt auf ein Brett, legt einige verschiedene Blätter hinzu und verstaut das Ganze in einem Leinenbeutelchen, den sie Elisabeth in die Hand drückt. „Bring das deiner Mutter, sie soll die Blätter mit sprudelndem Wasser übergießen und den Tee dem Ruprecht zu trinken geben. Das wird ihm die nötige Ruhe geben und das Fieber senken. Das Pulver aber soll sie mit Talk vermengen und diese Salbe auf die Wunde streichen.“
Das Mädchen dankt und will das Geld im Gegenzug überreichen, da wehrt die Alte energisch ab: „Nichts da, der Rudolf hat bei mir noch etwas gut!“ Sie schiebt die Schwestern aus der Tür und legt hinter ihnen den Riegel vor.
Sprachlos blickt Johanna Elisabeth an. Was hat denn das wieder zu bedeuten? Was hat die ganze Sache mit einem Rudolf zu tun? Gewiss kann sich die Alte einfach keine Namen merken. Ohne noch ein Wort zu sagen, eilen sie der Stadt zu, Mutter und Ruprecht werden warten.
Am Johannistor hat sich inzwischen ein schierer Stau gebildet. Die recht massiven Wagen aus Hilbertsdorf bringen ausgehauene Blöcke von den Steinbrüchen am Goldborn. Seit geraumer Zeit werden die Holzgebäude durch massive Steinhäuser ersetzt, soweit es der Geldbeutel neuer Grundstückseigentümer nur zulässt. Das Bestreben der Wohlhabenden, ihren Reichtum mit fest gemauerten Häusern, von allerlei Zierrat verschönt, herauszuschreien, ist keinesfalls nur ein Modedünkel. Die Stadtbrände der Vergangenheit sprechen eine zu deutliche Sprache.
Die zwei Mädchen drücken sich an einem Wagen vorbei durch das weit geöffnete Tor und betreten, erneut unbemerkt vom Scharfblick der Wachen, die Stadt.
Die Knaben um Reichenheins Claus haben offensichtlich noch immer ihr Vergnügen vor der Mauer. Kein Hinterhalt verwehrt den beiden Schwestern den Heimweg und so huschen sie, an Roselers Schuhmacherei vorbei, die Gasse hinüber zum elterlichen Haus.
An der Haustür wartet bereits die Prescherin, ohne jedoch auch nur einen Hauch von Ungeduld zu zeigen. „Na, das ging ja schneller als ich vermutete. Seid ihr geflogen oder gab es diesmal gar nichts zu untersuchen?“ In wohldosierter mütterlicher Liebe streicht sie den beiden Mädchen über die Köpfe. „Wir haben nun Zeit. Ruprecht ist eingeschlafen und scheint auf dem Weg der Genesung. Wir lassen ihn jetzt ruhen. Schlaf ist der beste Medikus.“ Sie zieht ihre Töchter in den Garten, wo sie auf der Bank an der Hecke Platz nehmen.
Nachdem Elisabeth die Handhabung der Arznei erläutert hat, kann Johanna ihren