Mit Zitaten geht Emcke in ihren Kolumnen generell sehr sparsam um, und wenn sie welche bringt, dann handelt es sich zumeist um solche von Philosophen und Wissenschaftlern, mit denen sie ihren eigenen Argumenten ein seriöses Fundament geben möchte. Ihre Argumentation zur Uninformiertheit der britischen Brexit-Wähler untermauert sie z. B. mit einem blumigen Zitat des Soziologen Bernhard Peters: »Eine argumentierende Öffentlichkeit fungiert zugleich als (…) normativer Maßstab zur Kritik realer Verhältnisse wie als real wirksames Medium von kollektivem Lernen« (zit. n. Emcke 2019). Bereits »argumentierende Öffentlichkeit« ist ein hübscher Nonsense, die Öffentlichkeit argumentiert ja nicht, sondern es wird in der Öffentlichkeit argumentiert, bzw. die, die da z. B. auf dem Marktplatz, im Parlament oder in den Medien argumentieren, konstituieren etwas, das man Öffentlichkeit nennt. Eine »argumentierende Öffentlichkeit« kann auch nicht »als normativer Maßstab zur Kritik realer Verhältnisse« fungieren. Da hat einer seinen Habermas falsch gelesen, so verquast drückt selbst dieser sich nicht aus. Allenfalls in der öffentlichen Diskussion ausgetauschte Argumente bzw. die Ergebnisse einer solchen Diskussion können als normativer Maßstab von was auch immer fungieren. Und nach Habermas können z. B. die in der Öffentlichkeit ausgetragenen Diskurse sogenannter verständigungsorientierter Akteure normativen Einfluss auf das politische System nehmen. Vielleicht hat Peters das gemeint. Zu fragen wäre noch, was eine Kritik nicht realer Verhältnisse im Unterschied zu einer Kritik realer Verhältnisse wäre und wie Medien auch nicht real wirken können. Aber lassen wir das, es ist ja klar, dass »real« in Peters kurzem Zitat nur ein prätentiöses Füllwort ist, um Flachsinn tiefsinnig erscheinen zu lassen. Kurz gesagt: Das Zitat ist soziologischer Bullshit, aber Emcke gefällt’s: »Allein die Formulierung ›argumentierende Öffentlichkeit‹ stimmt schon melancholisch, ruft man sich die hysterisch-verlogenen Auseinandersetzungen über den Brexit in Erinnerung, von ›kollektivem Lernen‹ einmal ganz abgesehen.« (ebd.) Ehrlich gesagt pflege auch ich einen gewissen Elitismus, spätestens wenn jemand bei einer soziologischen Bullshit-Phrase wie »argumentierende Öffentlichkeit« melancholisch gestimmt ist, kann ich ihn nicht mehr ernst nehmen.
Die Grenzen des gesunden Menschenverstandes – Harald Martenstein
Der Kolumnist Harald Martenstein sieht sich selbst als einen leidenschaftlichen Provokateur, der politisch nicht nach rechts oder links schaut, sondern einfach gern in Wespennester sticht – egal welcher politischen Couleur. In einem Gespräch mit dem Medienjournalisten Stefan Niggemeier, der sich zuvor oft kritisch über Martenstein geäußert hatte und nun zu einem direkten verbalen Schlagabtausch lud, verrät Martenstein, was ihn antreibt: »Ich bin nun so gestrickt, dass in mir so eine Situation, die Einheitsmeinung eines Milieus, eine diebische Lust weckt, den Advocatus Diaboli zu spielen. Ich muss da auf mich selbst aufpassen, damit ich nicht irgendwelche Positionen beziehe, nur weil es mir Spaß macht, wider den Stachel zu löcken.« (zit. n. Niggemeier 2018) Das Streitspräch geht klar zu Gunsten Martensteins aus, der besser vorbereitet scheint als Niggemeier. Dieser begeht den Fehler, wiederholt die Haltungen Martensteins zu kritisieren bzw. zu versuchen, ihm unterstellte Haltungen mit eigenen (moralischen) Haltungen auszuhebeln (Niggemeier sagt sehr oft »ich finde«), womit er krachend scheitert, weil sich Martenstein leicht darauf zurückziehen kann, als Advocatus Diaboli gar keine eigenen Haltungen zu vertreten. Sinnvoller, als Haltungen zu kritisieren und zu moralisieren, ist es, Argumente kritisch auseinanderzunehmen, denn auch ein Advocatus Diaboli muss gute Argumente haben. Die Analyse von Martensteins Argumenten zeigt dann, dass sich hinter diesen oft sehr schlechten Argumenten sehr wohl eigene Haltungen verbergen.
In seinen Kolumnen verkörpert Martenstein gerne das, was man den gesunden Menschenverstand nennt. Deshalb ist man beim Lesen seiner Kolumnen oft geneigt, ihm kopfnickend zuzustimmen, wenn er sich z. B. über Bürokratenirrsinn oder selbstgerechte Fahrradfahrer lustig macht. Es zeigt sich hier allerdings, dass der gesunde Menschenverstand bei Themen wie Diskriminierung, Rassismus oder Antisemitismus an seine Grenzen stößt. Und wenn sich bei solchen Themen intellektuelle Überforderung mit Schlaumeierarroganz paart, wird es unappetitlich.
Seine mit »Diskriminierung und Gerechtigkeit« betitelte Tagesspiegel-Kolumne vom 18. September 2010 beginnt Martenstein mit einer Definition von Diskriminierung: »Man hört oft, dieser wird diskriminiert, jene wird diskriminiert. Man hört die ganze Zeit dieses Wort. Ich kam zu dem Ergebnis: Diskriminierung heißt, dass jemand Nachteile erleiden muss wegen Eigenschaften, an denen diese Person nichts ändern kann. Jemand kriegt, nur wegen der Hautfarbe, eine bestimmte Wohnung nicht. Jemand wird vor allem wegen des Geschlechtes nicht befördert. Jemand fliegt aus dem Job, nur, weil er oder sie alt ist. Das ist Diskriminierung.« (Martenstein 2010) Die Beispiele, die Martenstein anführt, sind tatsächlich Diskriminierung, seine Definition von Diskriminierung ist allerdings zu kurz gedacht und damit falsch. Diskriminierung liegt nicht nur vor, wenn jemand aufgrund einer Eigenschaft benachteiligt oder verunglimpft wird, an der er nichts ändern kann, sondern auch, wenn eine Personengruppe im Ganzen oder ein einzelnes Mitglied einer Personengruppe für die Verhaltensweise nur eines Teils dieser Gruppe in Haft genommen wird und die Zugehörigkeit zu dieser Personengruppe freiwillig ist. Martenstein liegt also daneben, wenn er meint: »Wenn jemand Nachteile erleidet wegen Dingen, die er oder sie ändern könnte oder zu verantworten hat, dann handelt es sich meiner Meinung nach nicht um Diskriminierung.« (ebd.) Nennt z. B. jemand Harald Martenstein einen Lügenbaron, weil er der Meinung ist, dass Journalisten grundsätzlich lügen und Martenstein als Repräsentant der sogenannten »Lügenpresse« nur ein notorischer Lügner sein kann, stellt dies eine klare Diskriminierung dar, obwohl Journalist eine Eigenschaft Martensteins ist, an der er durchaus etwas ändern könnte. Er könnte ja auch als Versicherungsvertreter seine Brötchen verdienen. Verweigerte wiederum ein Versicherungsunternehmen nach Martensteins beruflicher Umorientierung die Zusammenarbeit mit ihm, weil er zuvor als Journalist tätig gewesen ist und Journalisten nach Auffassung des Versicherungsunternehmens kein glaubwürdiges Auftreten als Versicherungsvertreter haben können, stellte dies ebenfalls eine Diskriminierung dar aufgrund einer Eigenschaft Martensteins, für die er ganz allein verantwortlich ist. Journalismus ist keine Eigenschaft, die ihm angeboren ist, und er ist auch nicht gezwungen worden, als Journalist zu arbeiten.
Ist eine Prämisse bereits falsch, können aus dieser Prämisse gezogene Schlussfolgerungen kaum richtig sein. So wird es richtig dumm, wenn Martenstein dann aus der falschen Annahme, dass man nur aufgrund einer nicht änderbaren Eigenschaft diskriminiert werden könne, folgert, dass jemand, der sich diskriminiert fühlt, sich damit eine nicht änderbare, mitunter negative Eigenschaft bescheinigt. Martenstein führt das fiktive Beispiel der Personengruppe der Architekten an, die »laut Statistik im Durchschnitt häufiger kriminell als Anwälte oder Theologen« seien und deren Kinder »häufig nur gebrochen deutsch« [sic] sprächen (vgl. ebd.). Dann kommt es zu folgendem blödsinnigen Satz: »Wenn nun jemand kommt und sagt: ›Darauf herumzuhacken ist Diskriminierung!‹, dann würde dies ja bedeuten, dass den Architekten die Kriminalität, das Schulproblem und das Sprachproblem angeboren sind.« (ebd.) Dies würde das nicht einmal in Martensteins eigener verquerer Logik bedeuten. Denn die angeborene Eigenschaft, wegen derer Architekten allgemein diskriminiert würden, wäre ja nicht die Kriminalität, sondern dass sie Architekten sind. Martenstein verwechselt hier die von ihm ausgemachte »angeborene« Eigenschaft eines Diskriminierten mit den negativen Eigenschaften, die man Leuten wegen einer angeborenen Eigenschaft in diskriminierender Weise nachsagt. Im Beispiel Martensteins: Jemand wird als kriminell diskriminiert, weil er die »angeborene« Eigenschaft hat, Architekt zu sein, wobei dieses Architektendasein natürlich keine angeborene Eigenschaft ist, sodass Martenstein sich an seinem eigenen Beispiel hätte klarmachen können, dass seine Definition von Diskriminierung falsch ist.
Wenn jemand gegenüber einem Menschen mit sogenanntem Migrationshintergrund (dafür ist