Das Akkordeon verstummt. Die ganze Gruppe hebt im Chor an:
Sewastopol, Sewastopol,
Stolz der Matrosen, Russen, der Deinen
oh legendäres Sewastopol,
Bollwerk wider alle Feinde!
***
Vom Nachimow-Platz aus wollen wir die Uferseite wechseln – auf die „Nordseite“, wie das Viertel in Sewastopol genannt wird. Dort befindet sich der letzte noch nicht eingenommene Stützpunkt samt der Wohnheime der ukrainischen Militärangehörigen. Die Fähre, ein öffentliches Verkehrsmittel, verkehrt von morgens bis abends und bewältigt die Strecke in einer Viertelstunde. Die meisten Passagiere sind Berufstätige auf dem Weg von der Arbeit zu den Plattenbausiedlungen am Stadtrand. Einige sind auf dem Rückweg von einem Konzert, das dem „baldigen Anschluss an Russland“ gewidmet ist. Formal ist es noch ein Tag bis dahin. Die Strecke mag zwar sehr kurz sein, doch die Vorstellung, auf dem Schiff Gespräche zu führen, behagt mir nicht. An Land kannst du einfach weggehen – hier gibt es kein Entkommen. Man hat uns den Tipp gegeben, beim Anlegen auf die Kaimauer zu achten. Vom Schiff aus soll eine riesige blau-gelbe Flagge zu sehen sein, die auf den Beton der Anlegestelle gemalt wurde – ein Symbol des gewaltfreien Widerstands, das immer wieder überstrichen und dann in monatelanger Arbeit neu aufgetragen wird. Wir versuchen zu filmen, aber in der Dunkelheit erweist sich das als unmöglich.
Am Pier erwartet uns ein ukrainischer Offizier im Ruhestand, um uns mit seinem Wagen zu seinen Bekannten zu bringen. Wir sind in Eile. Im Vorbeifahren erhasche ich einen Blick auf ein Schild: „Fliegerhorst Belbek“. Hier ist eine Brigade der taktischen Luftstreitkräfte stationiert. Der Begriff Belbek ist derzeit in aller Munde. Wie auch der Name Juli Mamtschur, Oberst der taktischen Luftwaffenbrigade des Luftwaffenkommandos „Süd“. Dieser Tage ist Belbek ein Symbol des Widerstands. Rund zwei Wochen zuvor, am 4. März 2014, rückten ukrainische Militärangehörige mit der ukrainischen Nationalflagge in den Händen und mit der ukrainischen Nationalhymne auf den Lippen unter der Führung von Mamtschur zu den bewaffneten Soldaten vor, die die Zufahrt zum Stützpunkt blockierten. Man schoss den Ukrainern vor die Füße. Im Laufe des Tages kam der Stützpunkt wieder unter ukrainische Kontrolle. Am 12. März brach jedoch ein Feuer im Stützpunkt aus, der zu diesem Zeitpunkt bereits von russischen Spezialeinheiten erobert worden war. Die Ukrainer haben es gelöscht.
Selbst jetzt, im Dunkeln, kann man noch die ukrainische Flagge neben dem Tor erahnen. Diese Nacht wird der Oberst nicht zuhause verbringen, dafür ist seine Frau Larissa vor Ort. Die Offiziersfamilie lebt in einem kleinen Zimmer im nahegelegenen Wohnheim.
Larissa hat eine direkte und bestimmte Art. Es scheint, als hätte sie ihre eigene soldatische Pflicht zu erfüllen. Ihre Stimme klingt nicht verzweifelt, dabei lassen ihre Worte anderes vermuten: „Es ist vorbei. Zu spät. Das einzige, was drängt, ist die Erlaubnis zum Verlassen des Stabs – und selbst das ist schon seit einer Woche überfällig. Alles, was die Einheit hätte bewachen sollen, ist entweder beschlagnahmt oder zerstört. Und die eigenen vier Wände zu beschützen und Menschenleben zu riskieren macht keinen Sinn. Uns ist bewusst, dass die russische Armee an den Grenzen zur Ukraine aufmarschiert. Falls es dort losgeht, wird uns niemand herauslassen, um unserer Armee zu helfen. Man hätte unsere Truppen ohnehin früher abziehen müssen. Selbst wenn es nicht 20.000, sondern nur 10.000 wären, so sind es immer noch ausgebildete Spezialkräfte.“
„Wie lauten derzeit Ihre Befehle? Was spielt sich hier gerade ab?“
„Es heißt, sie seien gerade in der ‚Entscheidungsfindung‘. So gut wie alle fühlen sich im Stich gelassen. In dieser Situation sind uns die Hände gebunden. Der Befehl, ‚den Umständen entsprechend zu handeln‘, ist eine bequeme Ausrede, um sich aus der Verantwortung zu stehlen. Ganz gleich, was wir tun, wir werden ohnehin als Verräter verurteilt. Der Oberst trägt die Verantwortung für das gesamte Eigentum, das bereits zerstört wurde. Aus dem Stab kann er nicht ausscheiden, außer er jagt sich eine Kugel in den Schädel. Verlässt er den Stab, wird er als Verräter behandelt. Sie wollen wissen, was in den kommenden Tagen geschehen wird? Wir reden hier von Stunden. Drei Regimenter, darunter unser eigenes, wurden noch nicht festgesetzt. Wir erwarten die baldige Stürmung. Unsere einzigen Informationen beziehen wir aus dem Fernsehen, und dabei nicht einmal dem ukrainischen. Unser Flugplatz, die Ausrüstung – alles wurde bereits zerstört. Wir sind umzingelt von bewaffneten Männern.“
Der Hoffnungslosigkeit zum Trotz wollen wir sofort in unserer Eigenschaft als Journalisten helfen. Ich frage also, welche Art von
Hilfe die Militärangehörigen und ihre Familien nach dem „Referendum“ benötigen: „Wir sehen alles nur von unserer begrenzten Warte aus. Niemand traut sich, über Flucht zu reden, das wäre feige. Aber wir sitzen einfach herum und warten, da es keine Befehle gibt. Die größte Angst haben wir davor, dass in der Ukraine ein Krieg ausbricht. In den vergangenen drei Wochen haben wir uns moralisch und physisch an die Situation gewöhnt. Es gibt jetzt nicht viel zu helfen, es sei denn, das Militär würde auf das Festland verlegt.“
„Unterkunft, Geld, wenigstens irgendwas?“
„Stellt euch vor, die Leute lassen alles stehen und liegen, ihre Möbel, alles Mögliche. Gebe Gott, dass wir wenigstens einige Koffer packen können. Wo sollen wir nur hin – aufs freie Feld? Hier hat zumindest fast jeder ein Zimmer im Wohnheim, eine eigene Wohnung, oder die der Eltern. Und dort – nichts.“
Larissa macht eine lange Pause. Dann fährt sie fort: „Ich kann nicht behaupten, dass das ukrainische Volk uns nicht helfen würde. Wir werden aus allen möglichen Gegenden des Landes angerufen und moralisch unterstützt. Tablets haben wir auch erhalten, Internet haben wir. Die einzige spürbare Unterstützung kommt vom ukrainischen Volk. Wenn wir ermutigende Worte hören, etwa im Fernsehen… dann rühren sie uns zu Tränen. So leben wir. 99 Prozent der Militärangehörigen halten zu diesem Volk. Ob das auf die Regierung zutrifft, lässt sich schwer sagen. Aber für dieses Volk werden wir weiter einstehen.“
Major Leonid Lisowyj, der Nachbar der Familie Mamtschur, bringt sich in die Unterhaltung ein: „Was hier vor sich geht? Die russischen Truppen drängen uns an die Wand. De facto befinden wir uns jetzt auf fremdem Territorium. Seit dem Referendum sind wir für sie nicht mehr als bewaffnete Banditen, die ausgemerzt werden müssen. Das muss denen in Kyjiw klargemacht werden, aber die Leitungen sind gekappt. Ich denke nicht, dass es jetzt noch Sinn macht, Waffengewalt anzuwenden. Das wäre Brudermord. Wir haben jedoch keine Verbindung zum Verteidigungsministerium. Wenn wir doch nur potente Machthaber hätten, die hierher auf die Krim, nach Simferopol, kämen, um sich hinzusetzen und zu einer Einigung zu kommen. Aber so werden wir Tag für Tag weiter zurückgedrängt.“
Major Lisowyj hat eine Entscheidung getroffen. Gebürtig stammt er aus Winnyzja. Seine Eltern leben dort, vor kurzem hat er seine Frau dorthin geschickt. Eine Unterkunft auf der Krim hat er nicht erhalten: „Auf dem Dienstweg hat mir niemand etwas angeboten. Sobald ich in Winnyzja angekommen bin, vereinbare ich ein Treffen mit dem diensthabenden Offizier und bitte ihn, mich für ein weiteres Jahr zu verpflichten. Ich würde gerne. Kommt er zu dem Schluss, dass ich gebraucht werde – dann werde ich dienen. Falls nicht, schreibe ich einen Bericht und lasse mich vom Dienst suspendieren. Und was dann? Ich weiß es nicht. Das ist Sache der Machthaber.“
So dächten Lisowyj zufolge viele der Militärangehörigen, die nicht von der Krim kämen. Die Ortsansässigen