Die ältere Schwester ergänzt: „Ich habe 1963 mit dem Bau dieses Hauses begonnen und lebe seit einem halben Jahrhundert hier. Ich habe das alles mit meinen eigenen Händen geschaffen, gespachtelt, gestrichen – alles in der Hoffnung auf einen ruhigen Lebensabend.“
In den kommenden zweieinhalb Monaten werden die Schwestern zweimal nach Kyjiw reisen – davon einmal, um sich für die vorgezogenen Präsidentschaftswahlen zu registrieren. Die Fahrt nach Kyjiw ist kraftraubend und kostet Zeit und Geld. Für die betagten Frauen von der Krim ist sie eine Bürgerpflicht und wenigstens eine Sache, das sie tun können. Sie freuen sich, in Kyjiw zu sein. Die festliche Stimmung in den Wahllokalen und die blau-gelben Flaggen, die auf der Krim zum Symbol des Widerstands geworden sind. Wir unterhalten uns vor dem Eingang zu einem Wahllokal im Zentrum der Stadt, rund einhundert Meter vom Maidan entfernt. Eine der Wahlbeobachterinnen, eine Maidan-Aktivistin, will wissen, woher die Frauen stammen: „Ihr seid von der Krim? Warum habt ihr sie nicht verteidigt?“, fragt sie in vorwurfsvollem Ton: „Hier in Kyjiw haben Frauen in Pelzmänteln Pflastersteine herausgebrochen und Molotow-Cocktails vorbereitet.“
„Was konnten wir schon groß tun? Auch wir sind auf die Straße gegangen. Nur standen uns bewaffnete Leute gegenüber“, rechtfertigt sich die jüngere Schwester. Die ältere schweigt.
Für gewöhnlich mische ich mich nicht in Gespräche ein, sondern beschränke mich auf die Rolle der Beobachterin. Doch jetzt kann ich mich nicht zurückhalten und nehme die Wahlbeobachterin zur Seite: „Ist Ihnen überhaupt bewusst, was Sie da sagen? Diese beiden Damen haben am Euromaidan auf der Krim teilgenommen. Sie sind eigens nach Kyjiw gekommen, nur um ihre Stimme abzugeben. Sie haben schon genug Sorgen. Können Sie sich vorstellen, mit welchen Gedanken sie jetzt auf die Krim zurückkehren werden?“ Daraufhin geht die Frau zu den Schwestern zurück und entschuldigt sich.
Der Zug Simferopol – Kyjiw passiert Dschankoj, den letzten Halt auf der Halbinsel. Das bedeutet, dass es keine Kontrollen mehr durch Kosaken oder Krimnasch (Die Krim ist unser)-Aktivisten geben wird. Für einige Minuten schweigen die Passagiere einfach. Sie hängen ihren Gedanken nach oder schauen auf die Bildschirme ihrer Smartphones. Dann blicken sie auf und beginnen zu reden. Schnell wird klar, dass niemand in unserem Abteil die Annexion unterstützt.
„Diese Verräter! Sie haben uns einfach fallengelassen, um einem anderen Staat zu dienen“, empört sich eine junge Frau, die, wie sich herausstellt, für die Staatsanwaltschaft in Simferopol tätig war: „Man sollte sie alle vor Gericht bringen. Sie sind Journalistin? Wissen Sie vielleicht, ob man uns dort Arbeit verschafft? Ich habe einfach meine Sachen gepackt und mich auf den Weg nach Kyjiw gemacht. Ich werde bei der Generalstaatsanwaltschaft anrufen und fragen, wo ich jetzt arbeiten soll. Ich hoffe, es findet sich eine Möglichkeit. Wo soll ich sonst hin? Ich komme zwar von der Krim, aber mit Verrätern und Eidbrechern zusammenarbeiten – niemals!“
1 Begriff aus den russischen Staatsmedien zur ideologischen Überformung der Ereignisse von 2014 auf der Krim und im Donbas (Anm. d. Übers.).
2 Euphemistische Bezeichnung für die russischen Spezialeinheiten mit Uniformen, aber ohne Hoheitsabzeichen, die für die Besetzung der Krim eingesetzt wurden. Bisweilen auch zynisch als „höfliche Menschen“ gelesen, da die Spezialeinheiten auf direkte Gewaltanwendung bei der Besetzung und auf jegliche Kommunikation verzichtet haben (Anm. d. Übers.).
3 Während des Zweiten Weltkriegs Verdienstorden für sowjetische Soldaten; seit 2014 Symbol der Unterstützung der Aktivitäten der russischen Regierung auf der Krim und im Donbas (Anm. d. Übers.).
4 Taras Schewtschenko ist ein Klassiker der ukrainischen Literatur des 19. Jahrhunderts (Anm. d. Autorin).
5 Bezeichnung der russischen Regierung für eine diffuse geopolitische und kulturelle Einflusssphäre, die den Großteil der Nachfolgestaaten der Sowjetunion umfasst (Anm. d. Übers.).
6 Exekutiv-repräsentatives Organ des Krimtatarischen Volkes; seit 2016 durch die Besatzungsbehörden auf der Krim verboten (Anm. d. Übers.).
7 Von 1995 bis 1998 stellvertretender Vorsitzender des Obersten Sowjets der Autonomen Republik Krim. Seit November 2013 Vorsitzender des Medschlis des Krimtatarischen Volkes (Anm. d. Autorin).
8 Im März 2014 entsprachen 1.000 Hrywnja dem Wert von 120 US-Dollar (Anm. d. Autorin).
9 Name aus Sicherheitsgründen geändert. Im Folgenden habe ich die Namen meiner Gesprächspartner geändert oder auf eine Angabe verzichtet. Dies gilt insbesondere für diejenigen, die nach wie vor auf der besetzten Krim leben, und in Fällen, in denen diese Personen identifiziert und ihre Aussagen sie in Gefahr bringen könnten. Personen des öffentlichen Lebens sowie diejenigen, die auf eigenen Wunsch ihre Geschichte erzählen möchten (beispielsweise die Verwandten von politischen Gefangenen), werden hingegen namentlich im Buch genannt (Anm. d. Autorin).
10 Mittlerweile aufgelöste, auf Janukowytsch eingeschworene paramilitärische Spezialeinheit der ukrainischen Sicherheitskräfte; maßgeblich verantwortlich für die Mehrzahl der zivilen Todesopfer auf dem Maidan (Anm. d. Übers.).
11 Populäre Bezeichnung in der Ukraine für die mehr als 100 Todesopfer der Proteste auf dem Maidan (Anm. d. Übers.).
12 Ich bemerke, dass auf der Krim wie auch in russischen Fernsehsendern das Wort „Banderiwtsi“ wie „Benderiwtsi“ ausgesprochen wird. Es geht hier schon lange nicht mehr um Bandera – der Wortschatz der Propaganda ist ein Thema für sich (Anm. d. Autorin). „Banderiwtsi“ ist eine abwertende Bezeichnung für Ukrainer im Allgemeinen oder Menschen aus der Westukraine im Speziellen und spielt auf den ukrainischen Nationalisten Stepan Bandera (1909-1959) an (Anm. d. Übers.).
13 Sergej Aksjonow, ehemaliger Abgeordneter des Parlaments der Autonomen Republik Krim und Vorsitzender der prorussischen Partei „Russische Einheit“, gilt als einer der Drahtzieher hinter dem völkerrechtswidrigen Referendum über die Abspaltung der Krim von der Ukraine (Anm. d. Übers.).
14 Oleksandr Turtschynow. Nach der Flucht von Wiktor Janukowytsch vom 23. Februar bis zu zur Amtseinsetzung von Petro Poroschenko am 7. Juni 2014 Übergangspräsident der Ukraine (Anm. d. Autorin).
15 Dmitrij Jarosch. 2014 der Anführer der nationalistischen Bewegung „Rechter Sektor“ (Anm. d. Autorin).
16 „Moskaly“ im ukr. Original. Abwertende Bezeichnung für Menschen aus Russland (Anm. d. Übers.).
17 Seit 2015 Eurasische Wirtschaftsunion. Mitgliedstaaten: Armenien, Kasachstan, Kirgistan, Russland, Weißrussland (Anm. d. Übers.).
18 Am 22. März 2014 verteidigte die 204. Brigade der taktischen Luftwaffe unter dem Kommando