Diese dramatischen Entwicklungen erstaunten die Diplomaten, die in Zeeland nur darauf warteten, mit Karl die Segel nach Spanien zu setzen. Der Engländer Cuthbert Tunstal etwa wunderte sich über »die plötzliche Abreise des Pfalzgrafen, der bereits sein ganzes Zeug hat herbringen lassen, um mit dem König zu ziehen, und der von allen Edelleuten dem König stets am nächsten war«. Auch bemerkte er mit Verwunderung, dass »der König ganz und gar unbeugsam war«, fügte indes hinzu: »Ob all dies aus seinem eigenen Kopf entsprungen ist oder nicht, vermag ich nicht zu sagen.« Wie etliche andere auch vermutete Tunstal, dass Chièvres seine Hand im Spiel gehabt hatte, der es überhaupt nicht leiden konnte, den Pfalzgrafen Friedrich so »tief in des Königs Gunst« zu sehen, und der deshalb den Sturz seines Rivalen betrieben haben mochte. Thomas Spinelly hingegen glaubte, die plötzliche Entlassung des engen Vertrauten in Ungnade habe zum ersten Mal erwiesen, dass Karl »Mumm und Mut« besitze »und dass er erlittenes Unrecht nicht leicht wieder vergisst«. Spinelly sagte voraus, der junge König werde sich auch in Zukunft »mit fester Entschiedenheit« zeigen.54
Bei alldem verhinderten ungünstige Winde auch weiterhin die Abfahrt der königlichen Flotte aus Zeeland. Am 11. September äußerte ein Vertrauter Cisneros in Spanien, er setze wie viele andere auch seine Hoffnung darauf, »dass Seine Hoheit uns im Jahr 1517 nicht im Stich lassen wird, denn wir haben mehr als 1000 Dukaten auf seine Ankunft verwettet. Ich bete zu Gott, dass Er Seine Majestät sicher in diese Königreiche geleite.«55 Zu diesem Zeitpunkt war die Wette bereits halb gewonnen: Vier Tage zuvor hatte der Wind in Zeeland plötzlich gedreht, und Karl, Eleonore und ihr Gefolge hatten noch eilig die Beichte abgelegt und waren an Bord der Schiffe gegangen, die nun schon so lange für ihre Reise nach Spanien bereitgelegen hatten. Der Vorfall mit dem Liebesbrief hatte allen gezeigt, dass Karl bereit war, selbst enge Vertraute in Ungnade zu stürzen, solange es seinen Plänen nutzte. Ob er jedoch tatsächlich über den nötigen »Mumm und Mut« verfügte, um schwierige politische Entscheidungen zu fällen und dann »mit fester Entschiedenheit« an seinem Urteil festzuhalten – das musste sich erst noch zeigen.
Porträt des Kaisers als junger Mann
Sancho Cota, ein Dichter, der nach dem Tod Philipps des Schönen aus Spanien in die Niederlande geflohen und dort der Sekretär von Philipps Tochter Eleonore geworden war, hat uns ein intimes Porträt ihres Bruders Karl hinterlassen, das diesen am Vorabend seiner Abreise nach Spanien charakterisiert:
»Jetzt wollen wir davon sprechen, wie König Karl im Alter von sechzehn Jahren war. Er war von mittlerer Größe, hatte ein längliches Gesicht, blondes Haar, hübsche hellblaue Augen, eine wiewohl schmale, doch wohlgestalte Nase, wohingegen sein Mund und Kinn nicht so ansehnlich waren wie seine Züge sonst … Er war ein anmutiger, durchaus stattlicher Mann, aufrecht in seinem Lebenswandel, der Speis und Trank nur in Maßen zusprach; geistreich weit über seine Jahre hinaus; weitherzig und großzügig und überaus tugendsam.«1
In so gut wie allen zeitgenössischen Beschreibungen Karls finden sich Bemerkungen zu seinem charakteristischen »Mund und Kinn«. Der italienische Diplomat Antonio di Beatis, den Karl kurz vor seiner Abreise nach Spanien empfing, bemerkte, dieser sei zwar »groß gewachsen und von prächtiger Gestalt mit eleganten, geraden Beinen – den schönsten, die man bei einem Mann seines Standes je gesehen hat – … jedoch sein Gesicht ist lang gezogen und leichenblass, der Mund schief mit schlaff herabhängender Unterlippe (und er lässt ihn offen stehen, wenn er nicht aufpasst).« Ein anderer italienischer Gesandter jener Zeit berichtete, Karl sei »hübsch und hochgewachsen, redet nicht viel, obwohl ihm der Mund stets offen steht, was ihn ganz und gar nicht ziert … Er ist sehr anfällig für den Katarrh, und da seine Nase ständig verstopft ist, muss er eben durch den Mund atmen. Seine Zunge ist kurz und dick, weshalb er nur mit großer Mühe spricht.«2 So gut wie alle zeitgenössischen Skulpturen und Gemälde zeigen Karl mit offen stehendem Mund und markantem Unterkiefer. Bei einer weiteren Eigenschaft stimmten alle überein, nämlich der Frömmigkeit des jungen Mannes. Di Beatis zufolge besuchte Karl »jeden Tag zwei Gottesdienste, erst eine gelesene und dann eine gesungene Messe«; in der Karwoche zog er sich in der Regel zu Exerzitien zurück. So geschah es 1518 an seinem ersten Osterfest in Spanien, als er begleitet von »einem sehr kleinen Gefolge« in ein Kloster ging, »um allen weltlichen Angelegenheiten zu entfliehen und fast völlig allein zu sein, um sein Gewissen desto besser prüfen zu können und eine ernsthafte Beichte abzulegen«. Danach »brach er auf, um alle heiligen Stätten in der Umgebung zu besuchen und dort Ablass seiner Sünden zu erhalten«. Zwei Jahre darauf begab er sich wiederum »während der Zeit der Karwoche in ein Kloster, um dort seine Andacht zu halten«, und weigerte sich, Regierungsgeschäfte zu führen.3
Manche Beobachter sorgten sich um seinen Gesundheitszustand. Einer der wenigen Punkte, in denen seine beiden Großväter übereinstimmten, betraf seine Heirat mit Mary Tudor, die zunächst für Mai 1514 angesetzt gewesen war. Maximilian und Ferdinand jedoch meinten einhellig, die Hochzeit müsse »aufgeschoben werden, weil die Natur ihm nur wenig Körperkraft geschenkt hat«. Drei Jahre später warnten Karls Ärzte, dieser erscheine »so schwach, dass er keine zwei Jahre mehr zu leben habe«, was seine Minister in den Niederlanden dazu bewegte, einen Aufschub der geplanten Spanienreise zu erwirken, weil ihm »in seinem Heimatland [bessere] Gesundheit« sicher sei.4 Solche Bedenken widersprechen den Berichten von Karls Tüchtigkeit und Ausdauer beim Jagen und beim Turnierspiel und könnten schlicht auf ähnliche Vorurteile zurückgehen, wie sie schon die Minister seines Vaters Philipp an den Tag gelegt hatten, die »lieber zur Hölle fahren wollten als nach Spanien« (siehe Kap. 1) – oder wie sie selbst Erasmus von Rotterdam hegte, der eine ihm angetragene spanische Bischofswürde mit der Erklärung ablehnte, dass er sich »aus Spanien nichts mache«.5 Aber für den Januar 1519 ist eben doch ein einschneidendes Ereignis verbürgt, das tatsächlich auf eine körperliche Schwäche des jungen Karl hindeutet. Dem französischen Botschafter zufolge, der als Augenzeuge dabei war, »sank [Karl] zu Boden, als er während der heiligen Messe gerade kniete, und blieb so über zwei Stunden lang liegen, mit verzerrtem Gesicht, aber ohne sich zu rühren, gleich als wenn er tot wäre. Man trug ihn in sein Schlafgemach«, wo er dann für mehrere Tage blieb. »Jedermann hier spricht darüber«, gab der Botschafter zu Protokoll, nicht zuletzt, weil Karl »erst vor kaum zwei Monaten auf die gleiche Weise erkrankt ist«, als er gerade Tennis spielte.6
Doch selbst wenn »jedermann« in den Tagen danach »darüber« gesprochen haben mag, hat doch nur ein weiterer Augenzeuge, der Historiker und königliche Rat Pedro Mártir de Anglería, die beunruhigende Episode (womöglich handelte es sich um einen epileptischen Anfall) festgehalten – und selbst dieser zweite Zeuge gab sich alle Mühe, den Ernst des Vorfalls herunterzuspielen: »Während der König die Messe hörte, wurde er ohnmächtig und stürzte, erholte sich jedoch sogleich wieder.« Mártir fuhr fort: »Manche sagen, eine überreiche Mahlzeit am Tag zuvor sei schuld daran; und einige führen es auf ein Übermaß an geschlechtlicher Liebe zurück.«7 Die Erklärung, Karl habe eben »zu viel gegessen«, erscheint wenig plausibel: In den meisten Quellen, die von den Angewohnheiten des jungen Königs berichten, ist eher (wie bei Sancho Cota) von seiner Mäßigung die Rede, was Essen und Trinken angeht. Und was die Deutung »zu viel Sex« betrifft: Nach vier Jahren an Karls Hof kam der Venezianer Francesco Corner zu dem kategorischen Urteil, dass es sich bei Karl »nicht gerade um einen Weiberhelden« handele.8 Damit lag er jedoch falsch.
Im Februar 1517 berichtete ein englischer Diplomat in Brüssel (ohne Angabe seiner Quelle), dass »der Lord Chevers begonnen habe, dem Verlangen des Königs nachzugeben, und ihm gestattet, sich im Garten der Venus zu vergnügen«. Vielleicht war diese Andeutung ganz einfach der Erwartung geschuldet, Karl werde dem Beispiel seiner Großväter folgen, die beide