Für jeden war etwas dabei. Lustig und ausgelassen wurde gefeiert. Meistens ging es mit einer zünftigen Keilerei einher. Ein Bier kostete 48 Pfennig. Ein Los zehn Pfennig. Auf der Suche nach Freude und Vergnügen nutzte man jede Begegnung sehr intensiv. So manches Kind wurde hinter dem Bierzelt gezeugt. Die Aussage: »Schlage nie ein fremdes Kind, es könnte dein eigenes sein«, sorgte zwar für manchen Lacher, war allerdings zu der Zeit nicht ausschließlich witzig gemeint.
Jedenfalls war der Sommer wieder fruchtbar. Das nächste Kind war unterwegs. Die siebte Schwangerschaft!
Das fünfte Kind.
Ein Mädchen! Gisela. Sie wog stolze acht Pfund und war 53 Zentimeter groß. Das war ICH!
1961
Wieder ein Grund zum Saufen. Das Kind war sicher nicht willkommen, aber um darauf anzustoßen, war es als Anlass gut genug. Ansonsten war es nur ein Fresser mehr. Wie soll man denn so viele Mäuler stopfen? Wilhelm entzog sich der Verantwortung, indem er nach der Arbeit in die Kneipe ging. Trost und Ablenkung suchte und fand er in fremden Betten. Vielleicht war es ihm im eigenen auch zu riskant, die Angst zu groß, es käme gleich wieder etwas Lütsches. Nein, kein Sex – kein Kind. Es ist genug.
Die Leute im Dorf waren auch so freundlich und steckten es Henny. »Du, der treibt sich wieder im Nachbardorf rum«, bei Christa oder Liesbeth oder … egal.
Danke schön! Das ist mir bekannt, wird sie gedacht haben.
Sind sie nicht nett, die Dörfler? Die Eskapaden waren also aller Welt bekannt. Und so verpasste man ihm den Spitznamen Juckelprinz. Es war demütigend für Henny. Sie war nur noch für die Kinder da. Und da war noch etwas, aber das Geheimnis trug sie allein mit sich herum.
Es war Frühling. Die Zeit war unruhig. Irgendetwas hing in der Luft. Aber auf dem Land spürte man nichts davon. Hier ging alles weiter wie immer: Früh aufstehen. Die Tiere versorgen. Auf dem Feld arbeiten, aufräumen, putzen, waschen, Essen kochen …
Niemand fragte die Kinder, wie es in der Schule läuft. Das war auch nicht notwendig. Die Lehrer traf man auf der Straße. Sie berichteten gleich über den Gartenzaun, was das Kind vergessen oder mit wem es einen Streit vom Zaune gebrochen hatte. Und wenn der Lehrer dem Sohn eine scheuerte, weil er frech war, half kein Petzen bei den Eltern. Dann gab es gleich noch einmal eine Schelle, eine Strafarbeit und Stubenarrest. (Damals war das wirklich noch eine Strafe, es gab weder Handy, PC noch Laptop. Henny hatte nicht mal ein Telefon mit Wählscheibe.)
Mit dem neuen Baby wuchsen Hennys Sorgen. Wie sollte es nur weitergehen? Gut, dass es Kindereinrichtungen gab. Der Große war inzwischen zehn und Karla sieben Jahre alt. Sie gingen zur Schule und anschließend in den Hort. Ursel und Michi waren gut im Kindergarten untergebracht. Das Kindergeld des Staates half über einige finanzielle Probleme hinweg, wenn Wilhelm nur nicht so viel versaufen würde. Henny musste recht bald wieder arbeiten gehen, um das Fehlende dazu zu verdienen. Einige Auftraggeber sagten ihr schon ab. Sie durfte dort nicht mehr putzen, weil sie sicher die Zeit für ihre vielen Kinder bräuchte. Was nun? Sie brauchte das Geld, um die Familie satt zu bekommen. Es war nicht für sie. Ihre Wünsche hatte sie schon lange in den Hintergrund gestellt. Aber die Kinder. Was sollte nur aus ihnen werden? Wie schnell war der Staat dabei, sie ihr wegzunehmen. Nein. Sie musste arbeiten.
Sechs Wochen nach der Geburt galt die Mutter als wieder einsatzfähig. Damals gab es die Sechs-Tage-Arbeits-woche. Also begann Henny auf der Suche nach Arbeit, ›Klinken zu putzen‹.
Der LPG-Vorsitzende hatte Mitleid mit ihr und stellte sie ein. Sie durfte für ein paar Stunden das Büro putzen und im Stall aushelfen. Es fehlte immer jemand. Somit arbeitete sie als Springer im Kuhstall. Das heißt, immer da, wo jemand gebraucht wurde, weil ein Angestellter wegen Krankheit, Urlaub oder Ähnlichem ausfiel, sprang sie ein. Damit war die Verantwortung zu Hause auch neu verteilt. Die Großen mussten die Kleinen in den Kindergarten bringen, bevor sie selbst zur Schule gingen. Und sie nachmittags hüten, bis die Mutter wieder zurück war. Denn der Arbeitsbeginn im Kuhstall war morgens um vier. Um drei stand sie auf, machte sich zurecht und bereitete das Brot für ihren Mann vor. Dann fuhr sie mit dem Rad zum Kuhstall.
Freizeit? Was ist das? Die hatte Henny schon seit Jahren nicht mehr. Früher kamen die Frauen noch zum Kaffeeklatsch. Jede Woche war jemand anderes dran, um bei einer Nachbarin beim Federnschleißen für neue Kopfkissen zu helfen, wobei Neuigkeiten ausgetauscht und auch mal ein Likör getrunken wurde. Inzwischen war Henny nicht mehr dabei. Eine Freundin hatte sie noch. Musste sich aber heimlich mit ihr treffen, weil deren Mann das nicht wollte. Der Ehemann ihrer Freundin war wohl der Meinung, dass Henny einen schlechten Einfluss auf seine Frau ausüben könnte.
Wenn Henny dann nach der ersten Schicht im Kuhstall zurückkam, machte sie mich fertig, um mich in der Kinderkrippe abzuliefern. Etwas Katzenwäsche gab es vorher noch. Mit einem ollen Waschlappen und kaltem Wasser ging es durchs Gesicht. Ein Geschrei und schon waren alle wach. Auch die Nachbarn.
Meine Mutter trug mich schnell raus. An dem Fahrrad hing ein Körbchen vorn am Lenkrad aus Weidengeflecht mit einem dünnen Holzbrett als Sitzfläche. Ich musste mich am Lenker festhalten, rücklings zur Fahrtrichtung. So wurde ich bei Wind und Wetter zur Krippe gefahren. Danach ging Mami putzen oder richtete den Haushalt her. Anfangs putzte meine Mutter morgens im Büro, bevor es genutzt wurde und nur nachmittags quälte sie sich im Stall. Später buckelte sie dann auch in der Frühschicht. Bis halb sieben musste ich brav im Bett liegen bleiben, weil sie nicht eher von der Frühschicht mit dem Fahrrad vom Nachbardorf zurück war. Wie das alles funktioniert hat, weiß ich nicht. Aber es hat wohl geklappt. Ab und zu hat die Nachbarin gehorcht, ob noch Ruhe im Hause ist. Sie wusste, dass wir Kinder alleine waren und das Haus für jedermann offenstand. Manchmal kam sie rüber, um uns zu trösten, wenn wir eher wach waren als unsere Mutter zu Hause. Bald lehnte sie aber diesen Einsatz ab. »Henny, so geht das nicht!«, sagte sie. »Du musst dich um deine Kinder kümmern!«
Was sollte sie darauf antworten? »Ja, du hast ja recht, aber ...«
Ich ging gern in die Kinderkrippe. So nannte man die Einrichtung, in der Babys von sechs Wochen bis zum dritten Lebensjahr untergebracht wurden. Sie war getrennt vom Kindergarten. Die Krippe befand sich im zwei Kilometer entfernten Nachbarort auf dem Weg zu Mutters Arbeitsstelle. Leider passten die Zeiten nicht. Darum fuhr sie diese Strecke mehrmals am Tag. Eine Lösung für ihr Problem war nicht in Sicht.
Die Orte schmolzen immer mehr zusammen. Es wurden neue Häuser gebaut. Eine offensichtliche Ortsgrenze gab es über die Jahre nicht mehr. Im 15. Jahrhundert waren diese kleinen Siedlungen im Bördeland entstanden und durch Zuwachs und Zuwanderung immer größer geworden. Kirchen, Rathäuser und Schlafplätze für die Erntehelfer wurden gebaut und stets modernisiert. Viele wurden ansässig, bauten das eigene Nest und so zählte ein Dorf mehr als 800 Einwohner. Die Häuser waren aneinandergereiht und näherten sich somit dem Nachbardorf. So lebten in den ehemals vier kleinen Siedlungen bis zu 3.000 Bürger.
Heute, im Jahr 2018, sinkt die Einwohnerzahl, weil es kaum Arbeitsplätze auf dem Land gibt. Die Lebensmittel werden aus dem Ausland billig importiert. Unser guter Bördeboden mit der besten Bodenwertzahl weit und breit wird zu Bauland für Windkrafträder umfunktioniert. Das Essen kommt aus China, Nordamerika, Argentinien … Gütekontrollen spielen keine Rolle, Hauptsache billig. Der Arbeitslohn in den Importländern ist im Vergleich zu den deutschen Einkommen minimal. Deshalb schrumpfen auch die Landwirtschaftsbetriebe. Zu allem Überfluss ist der Transport nach Europa eine erhebliche Umweltbelastung – ob mit dem Flugzeug oder mit dem riesigen Öltanker. Aber das ist für die Leute nicht mehr wichtig, weil auch heute wieder das Geld für gesunde Ernährung fehlt. Die heimische landwirtschaftliche Produktion scheint auszusterben. Arbeit gibt es nur in den Städten. Handel und Industrie sind dort angesiedelt. Wer Geld verdienen will, muss in die Stadt. In meinem Heimatdorf leben inzwischen weniger als 1.800 Leute. So ist es im 21. Jahrhundert.
Tja,