Ein Kuckuckskind. G. Ungewiss. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: G. Ungewiss
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Контркультура
Год издания: 0
isbn: 9783956836718
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war nicht sonderlich groß, man könnte auch um ihn herum spazieren, aber das war nichts für Wilhelm mit seinen schweren Armeestiefeln. Er ließ sich lieber chauffieren. Auch wenn es nur vom Fährmann war. Das gab ihnen ein klein wenig das Gefühl, etwas Besonderes zu sein. Es war ein erhebendes Gefühl. Und man konnte seine Angebetete besser im Arm halten. Schließlich waren auch die Männer auf der Suche nach Abwechslung und Liebkosungen. Wenn auch nicht gerade mit noblen Absichten.

      Da war er nun: Wilhelm. Er war frech, aufdringlich und doch liebenswert. Er war voller Kraft, Humor und Beschützerinstinkt. Das imponierte ihr. Da Henny Wochen bis Monate allein war, suchte sie das Abenteuer. Frust, Trotz und Neugierde wuchsen in ihr, sie wollte sich auflehnen gegen die Ketten, die ihr durch die Ehe auferlegt waren. Spaß und Freude waren die größte Sehnsucht nach den angsterregenden Erfahrungen, die ihnen die Kriegs- und Nachkriegszeit bescherten. Es kribbelte wieder im Bauch.

      Sie war verheiratet, mit ihrem Offizier. Das war schon etwas. Die sogenannten geordneten Verhältnisse konnte sie vorweisen, aber das genügte ihr nicht mehr. Was sollte sie mit einem Mann, der nur auf dem Papier zu ihr gehörte? Mit den Alltagsproblemen blieb sie allein. Wo war die anfängliche Wärme geblieben? Sie war einsam. Diese Ehe bestand nicht mehr, nicht für sie. Wenn sie doch wenigstens ein Kind von ihm gehabt hätte! Ein Wesen, für das sie hätte sorgen, welches sie hätte liebkosen können. Aber auch das wollte einfach nicht klappen. Es passte eben nicht. Sie entfremdeten sich zusehends. Gespräche, gemeinsame Interessen und oder gar Aktivitäten fanden mit ihrem Offizier nicht mehr statt. Keine Ausflüge, Kutschfahrten durch die Natur mit einem Picknick im Wald, wie man es inzwischen in den Kinos sehen konnte. Sie träumte von romantischen Abenden beim Tanz unter dem Sternenhimmel in den Armen eines starken Mannes, der ihr zuhört. Wo war dieser Mann? Ihr Angetrauter nahm sie gar nicht wahr.

      Und da war er nun. Wilhelm. Sie fand nach einer enttäuschten Ehe mit einem Offizier ihre neue Liebe zu Wilhelm, dem Soldaten. Trotz oder wegen der Nachkriegswirren. Henny war verliebt. Heimlich trafen sie sich in der Stadt. Ihre Cousine war pikiert. So etwas schickte sich nicht. »Du bist verheiratet!«, sagte sie immer wieder. »Nein! Nur auf dem Papier!«, trotzte Henny. Sie wollte diese Ehe nicht mehr. Was für eine Schande, aber das war ihr egal. Sie brauchte Streicheleinheiten. Aufmerksamkeit. Respekt. Liebe. Bald monierte ihre Cousine nicht mehr, weil sie ebenfalls ihre große Liebe fand und inzwischen Henny besser verstehen konnte. Damit hatte die junge Frau freie Bahn.

      Und er war ihr Wilhelm!

      Nach dem Abzug der alliierten Truppen sprengte die Sowjetarmee das Munitionslager in Schwerin. Die deutschen Soldaten wurden nach Hause geschickt. Es gab nichts mehr zu bewachen. In Friedenszeiten warteten andere Aufgaben auf die Jugend. Der alte Schmutz und Ballast musste aufgeräumt werden. Man hatte keine Verwendung mehr für sie in Sternbuchholz. Wilhelm fuhr in seine Heimat, zurück in die Börde. Tränen flossen beim Abschiednehmen, aber er versprach ihr, sie nachzuholen ...

      HENNY IN DER BÖRDE

      Sie war hübsch, schlank, mit braunem schulterlangen Haar. Ja, die Männer drehten sich nach ihr um. Doch sie dachte nur an den einen. Ein halbes Jahr später fuhr sie ihm nach. Sie hatte gewartet, aber er kam nicht, sie zu holen. So nahm sie ein kleines Köfferchen und setzte sich in den Zug. Zuvor schrieb sie ihrem Geliebten. Sie meinte es ernst und fuhr in ihre Zukunft. Die Aufregung war groß. Willi holte sie vom Bahnhof ab und brachte sie in sein Heim. Der Weg führte durch das halbe Dorf. Beide wurden gesehen.

      Wen hat Willi denn da mitgebracht? Eine schmucke Dern. Woher kommt sie? Was ist mit unseren Bräuten im Ort, die jahrelang auf die Rückkehrer gewartet haben? Die Hoffnung der Jungfrauen oder besser, der jungen Frauen war groß, als er ledig und gesund zurückkehrte. Und nun das! War alles vergebens? Das Warten umsonst? So ein gutaussehender Mann … schade!

       Wieder flossen Tränen.

      Vielleicht war sie schwanger, fragte man sich im Ort. Und dann hatte man die Gewissheit. Er musste sie also mitbringen. Und wann wird nun geheiratet? Nach der Scheidung. Na ja, irgendwas ist ja immer. Verheiratet ist sie also auch noch! So eine Verschwendung. Und die ledigen Frauen hier mussten sich mit dem ›vorhandenen Material‹ an Männern zufriedengeben.

      Eine verheiratete, schwangere Frau aus Mecklenburg-Vorpommern!

      Wie ungerecht doch die Welt ist!

      Bei den Frauen aus dem Ort war sie schon mal unten durch, trotzdem wurde sie mit einer überraschenden Freundlichkeit empfangen, sodass sie sich ziemlich schnell heimisch fühlte.

      Aber ...

      Sie hatte keinen leichten Einstieg bei der Mutter des Geliebten und blieb immer die Unerwünschte. Aber was soll’s? Eine starke Liebe kann doch nichts erschüttern, dachte sie. Sie ward geschieden von ihrem Offizier, gebar im Dezember ihren Sohn Rudolf und heiratete im folgenden Jahr, am 16. Februar 1952, mit 22 Jahren den Soldaten Wilhelm.

      Sie war lebenslustig und verliebt. Ihre Wünsche gingen in Erfüllung. Nun hatte sie einen Mann, der für sie da war, und ein Baby. Wilhelm wusste, wie man Frauen verwöhnt. Er war ein Charmeur vor dem Herren. Das Leben kann so schön sein. Im Dorf lebte sie sich durch ihre aufgeschlossene Art schnell ein. Die Männer flirteten mit ihr. Die Frauen fragten sie aus und beäugten sie neidisch. Es war ein ruhiges und friedliches Leben. Einfach schön. Drei Jahre später brachte sie eine Tochter zur Welt. Sie nannte sie Karla. Jetzt schien sie das Glück auf ihrer Seite zu haben. Es war eine Freude. Die Familie war komplett.

      Der Kindesvater arbeitete in der LPG. Die Landwirtschaft, das war die einzig mögliche Arbeit in der Börde, die für den inzwischen 29-Jährigen infrage kam. Der Armee hatte er den Rücken gekehrt. Die Soldaten wurden sowieso nicht mehr gebraucht. Somit war er zu Hause in Klein Siehstenicht – bei seiner schönen Frau und seinem Sohn. Und wie stolz war er erst, als er auch noch eine Tochter bekam. »Wir müssen zusammenrücken«, sagte er. Aber liebende Menschen haben auch in der kleinsten Hütte Platz.

      Schließlich waren da auch noch seine Eltern. Die freuten sich sicher auch, wenn sie die Kinder umsorgen durften. Kinder bringen Liebe und Wärme ins Heim. So ein kleiner Mensch scheint wie ein großes Wunder. Man musste sie einfach liebhaben.

      Bald bekamen sie einen kleinen, verkommenen Wohnraum, den sie sich gemütlich herrichten konnten. Henny hatte schließlich gelernt, wie es geht. Mit einfachen Mitteln dekorierte sie für die Familie ein gemütliches Zuhause. Die Wände wurden getüncht, Stoffe als Tischdecken ausgelegt und Feldblumen für den Tischschmuck gepflückt. Dann noch ein altes Foto an die Wand – und nach und nach entwickelte Henny ihren eigenen Stil. Und für die Sorgen gab es Likör. Ein Allheilmittel gegen Langeweile, Betrübtheit, Ärger und Bauchweh. Das hatte man ihr in diesem Ort beigebracht: »Es ist bekannt von Alters her, wer Sorgen hat, hat auch Likör.« Also musste dieser auch im Hause sein.

      Willi übernahm schließlich die Verantwortung eines ehrenamtlichen Dorfpolizisten. Die wurden gesucht von staatlicher Seite. Die Ausbildung in Theorie und Praxis übernahm die provisorische Regierung. Das war eine ungeübte Verwaltung, angeleitet von russischen Soldaten mit willigen Bauern, die etwas ›Besseres‹ werden wollten oder sollten. Sie versuchten, die neuen Gesetze und Verordnungen, die von ›Oben‹ kamen, umzusetzen. So schulte diese Regierung die Bauern zu Hilfspolizisten. Alle waren dabei, weil es offensichtlich alle gestandenen Männer machen mussten. So auch Wilhelm. Schließlich galt es, »die Grenze zu schützen«, wie es hieß. Soldaten durften dort nicht agieren, da die Gefahr bestand, dass zwei Streitmächte aufeinandertreffen und somit Grundlagen für einen neuen Krieg gelegt würden. Das wollte niemand. Also wurde in Berlin die kasernierte Volkspolizei an den Grenzstreifen gestellt und auf dem Land die Volkspolizei mit Unterstützung der Hilfspolizisten – auch um zu verhindern, dass weitere Anwohner flüchteten und auch noch wertvolle Kulturgüter mitgehen ließen. Sie lebten nahe der niedersächsischen Grenze, in der Ostzone, die immer mehr gesichert wurde. Hier galt es besonders, die wenigen noch verbliebenen Wirtschaftsgüter zu sichern. Oft waren es Fachkräfte, die das Weite suchten, sagte man. Warum eigentlich gerade die gebildeten Leute? Was wissen die, was wir nicht wissen, fragten sich die anderen. Warum treibt es sie fort? Wir sind doch die ›Guten‹. Wir wollten den Neuanfang in einer neuen, besseren