Arthur Ransome, Six Weeks in Russia in 1919 (Ransome, 1919, S. 54)
Entsetzlich, die Gedichte Shelleys zu lesen (nicht zu reden von ägyptischen Bauernliedern von vor 3000 Jahren), in denen die Unterdrückung und Ausbeutung beklagt wird! Wird man so uns lesen, immer noch unterdrückt und ausgebeutet, und sagen: schon damals …?
Bertolt Brecht beim Lesen von Shelleys Die Maske der Anarchie (1938, 1964)
Erstmals seit der Französischen Revolution hat sich in Europa eine russische Revolution erhoben, und dies hat der Welt wieder einmal gezeigt, daß selbst die stärksten Invasoren in die Flucht geschlagen werden können, wenn das Schicksal des Vaterlandes wirklich den Armen, den Anspruchslosen, den Proletariern, den arbeitenden Menschen anvertraut wird.
Aus der Wandzeitung der 19. Brigata Eusebio Giambone der italienischen Partisanen, 1944 (Pavone, 1991, S. 406)
Revolution war das Kriegskind des 20. Jahrhunderts: Besonders die Russische Revolution von 1917, die die Sowjetunion gebar, verwandelte sich bis zur zweiten Phase des einunddreißigjährigen Krieges in eine Supermacht beziehungsweise, allgemeiner ausgedrückt, in eine Revolution, die eine globale Konstante der Jahrhundertgeschichte wurde. Krieg allein führt kriegführende Staaten noch nicht notwendigerweise in eine Krise oder in den Zusammenbruch und Revolution. Vor 1914 hatte sogar das Gegenteil gegolten, zumindest für etablierte Regime mit traditioneller Legitimation. Napoleon I. hatte sich bitter darüber beklagt, daß der Kaiser von Österreich hundert verlorene Schlachten glücklich überleben konnte, ebenso wie der König von Preußen ein militärisches Desaster und den Verlust der Hälfte seiner Länder, während er, ein Kind der Französischen Revolution, schon nach einer einzigen Niederlage in Gefahr gerate. Doch der Kraftaufwand, den der totale Krieg des 20. Jahrhunderts von den in ihn verwickelten Staaten und Völkern forderte, war derart überwältigend und beispiellos, daß diese bis an die Grenzen ihrer Kräfte belastet wurden und sehr wahrscheinlich bis an den Rand des Zusammenbruchs gelangt waren. Nur die USA tauchten aus den Weltkriegen in beinahe dem gleichen Zustand wieder auf, in dem sie in sie eingetreten waren – nur etwas gestärkt. Für alle anderen Staaten bedeutete das Ende der Kriege: Umsturz.
Die alte Welt war ganz offensichtlich zum Untergang verdammt. Die alte Gesellschaft, die alte Wirtschaft, das alte politische System hatten, wie es in einem alten chinesischen Sprichwort heißt, »das Mandat des Himmels verloren«. Die Menschheit wartete auf eine Alternative. Und eine dieser Alternativen war 1914 durchaus bekannt. Sozialistische Parteien, die auf die Unterstützung der sich ausbreitenden Arbeiterklasse in ihren Ländern bauten und vom Glauben an die historische Unvermeidlichkeit ihres Sieges durchdrungen waren, boten in den meisten Ländern Europas diese Alternative an. Und es sah so aus, als bräuchten die Völker nur ein Signal, um sich zu erheben und den Kapitalismus durch Sozialismus zu ersetzen und damit die sinnlosen Leiden des Krieges schließlich in etwas Sinnvolleres zu verwandeln: die blutigen Geburtswehen und Konvulsionen einer neuen Welt. Die Russische oder genauer: die bolschewistische Revolution vom Oktober 1917 war bereit, der Welt dieses Signal zu geben. Deshalb war sie für dieses Jahrhundert ein ebenso zentrales Ereignis, wie es die Französische Revolution von 1789 für das 19. Jahrhundert gewesen war. Es ist in der Tat kein Zufall, daß die Geschichte des Kurzen 20. Jahrhunderts, wie es in diesem Buch definiert wird, genau mit der Lebensdauer des Staates zusammenfällt, den die Oktoberrevolution geboren hat.
Die Oktoberrevolution hatte jedoch ein sehr viel stärkeres und globaleres Echo als ihre Vorgängerin. Zwar ist mittlerweile deutlich geworden, daß die Ideen der Französischen Revolution die des Bolschewismus überlebt haben, aber die faktischen Auswirkungen von 1917 waren bei weitem größer und anhaltender als die von 1789. Die Oktoberrevolution brachte die gewaltigste Revolutionsbewegung der modernen Geschichte hervor. Ihre Ausdehnung über die Welt ist seit dem Siegeszug des Islam in seinem ersten Jahrhundert ohne Parallele geblieben. Bereits dreißig bis vierzig Jahre nach Lenins Ankunft am Finnlandbahnhof von Petrograd befand sich ein Drittel der Menschheit unter der Herrschaft von Regimen, die unmittelbar aus den »Zehn Tagen, die die Welt erschütterten« (Reed, 1919) und Lenins organisatorischem Modell, der Kommunistischen Partei, hervorgegangen waren. Die meisten dieser Regime traten der Sowjetunion in einer zweiten Revolutionswelle bei, die in der zweiten Phase des langen Weltkriegs von 1914–1945 anschwoll. Das gegenwärtige Kapitel beschäftigt sich mit dieser Zweiphasenrevolution, obgleich der Fokus stärker auf die erste und prägende Revolution von 1917 und die spezifische Architektur des Hauses gerichtet ist, das sie ihren Nachfolgern errichtet hat.
Sie jedenfalls hat die Folgezeit im wesentlichen dominiert.
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Die längste Zeit des Kurzen 20. Jahrhunderts hat der sowjetische Kommunismus für sich in Anspruch genommen, eine Alternative zum Kapitalismus und das ihm überlegene System zu sein, welches überdies von der Geschichte dazu ausersehen sei, über ihn zu triumphieren. Und während der längsten Zeit dieser Periode konnten sich selbst diejenigen, die seinen Anspruch auf Überlegenheit zurückwiesen, absolut nicht sicher sein, daß er nicht doch noch den Sieg davontragen würde. Die internationale Politik des ganzen Kurzen 20. Jahrhunderts seit der Oktoberrevolution – mit der entscheidenden Ausnahme der Jahre zwischen 1933 und 1945 (siehe Fünftes Kapitel) – könnte am einleuchtendsten als ein Jahrhundertkampf der Mächte der alten Ordnung gegen die soziale Revolution beschrieben werden. Denn man war allgemein davon überzeugt, daß diese Revolution von der Sowjetunion und dem internationalen Kommunismus verkörpert werde, diese beiden wiederum untrennbar mit der Revolution an sich verbunden seien, während die Revolution als solche auf Gedeih und Verderb ihrerseits von diesen beiden abhängig sei.
Doch im Verlauf des Kurzen 20. Jahrhunderts wurde das Bild einer Weltpolitik als eines Duells zwischen den Mächten zweier rivalisierender Gesellschaftssysteme (hinter denen nach 1945 jeweils eine Supermacht mit weltzerstörerischen Waffen stand) immer unrealistischer. In den achtziger Jahren hatte diese Vorstellung für die internationale Politik keine größere Relevanz mehr als die Kreuzzüge. Doch es ist verständlich, wie es zu ihr kommen konnte. Denn die Oktoberrevolution, umfassender und kompromißloser als die Französische Revolution in ihrer jakobinischen Zeit, hatte sich selbst mehr als ökumenischen denn als nationalen Prozeß betrachtet. Sie war nicht dazu angetreten, Rußland Freiheit und Sozialismus zu bringen, sondern der Welt zur proletarischen Revolution zu verhelfen. In den Köpfen von Lenin und seinen Genossen war der bolschewistische Sieg in Rußland nur eine gewonnene Schlacht im weltweiten Feldzug des siegreichen Bolschewismus, und auch nur als solche zu rechtfertigen.
Daß das zaristische Rußland reif war für eine Revolution und wahrhaftig eine Revolution verdiente und daß eine solche Revolution mit Sicherheit den Zarismus stürzen würde, war seit 1870 von jedem aufmerksamen Beobachter in der Welt behauptet und erwartet worden. Seit 1905–06, nachdem der Zarismus tatsächlich von der Revolution in die Knie gezwungen worden war, hegte dann niemand mehr ernsthafte Zweifel daran. Rückblickend behaupten zwar manche Historiker, daß sich das zaristische Rußland zu einer blühenden, liberalen kapitalistischen Industriegesellschaft hätte entwickeln können und in der Tat auch schon auf dem Weg dorthin gewesen sei, wären da nicht der Erste Weltkrieg und die bolschewistische Revolution gekommen. Aber vor 1914 hätte man solche Prophezeiungen mit der Lupe suchen müssen. Kaum hatte sich das zaristische Regime 1905 einigermaßen von der Revolution erholt, da fand es sich – unentschlossen und inkompetent wie eh und je – schon wieder mit einer rapide anschwellenden Welle der gesellschaftlichen Unzufriedenheit konfrontiert. Und hätte es nicht die Loyalität von Armee, Polizei und Beamtenschaft gegeben, so wäre das Land in den letzten Monaten vor Ausbruch des Krieges wohl wiederum einer Eruption nahe gewesen. Doch wie in so vielen anderen kriegführenden Staaten haben auch hier nach Ausbruch des Krieges Massenbegeisterung und Patriotismus die innenpolitische Lage entschärft – im Falle Rußlands jedoch nicht für lange. 1915 schienen die Probleme der zaristischen Regierung erneut unüberwindlich. Nichts hätte weniger überraschend und unerwartet kommen können als die Revolution im März 1917.1 Sie stürzte die russische Monarchie und wurde von den politischen Meinungsmachern des Westens weltweit begrüßt – von den stockkonservativen, traditionalistischen Reaktionären