Das Zeitalter der Extreme. Eric Hobsbawm. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Eric Hobsbawm
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Историческая литература
Год издания: 0
isbn: 9783806239669
Скачать книгу
Luftfahrt und die Computertechnik. Doch dies ändert nichts an der Tatsache, daß Krieg oder Kriegsvorbereitungen einen wesentlichen Anteil an der Beschleunigung von technischen Prozessen hatten, weil sie die Entwicklungskosten von technologischen Innovationen »trugen«, die mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit von niemandem übernommen worden wären, der zu Friedenszeiten eine Kosten-Nutzen-Analyse aufgestellt hätte. Zumindest wären sie langsamer und zögerlicher entwickelt worden (siehe Neuntes Kapitel).

      Dieser Hang des Krieges zur Technologie war allerdings nicht neu. Und auch die moderne industrielle Wirtschaft beruhte auf ständiger technologischer Innovation, die mit Sicherheit und wahrscheinlich wachsender Geschwindigkeit auch ohne Kriege stattgefunden hätte (wenn diese unrealistische Annahme um des Argumentes willen gestattet ist). Kriege, vor allem der Zweite Weltkrieg, förderten zwar in hohem Maße die Verbreitung von technischem Sachverstand und hatten gewiß auch große Auswirkungen auf die industrielle Organisation und die Methoden der Massenproduktion, doch im großen und ganzen führten sie höchstens zur Beschleunigung von Veränderungen, nicht aber zu einer wirklichen Transformation.

      Hat Krieg das Wirtschaftswachstum vorangetrieben? In einer Hinsicht gewiß nicht: Der Verlust an Produktionsmitteln war hoch, ganz abgesehen vom Dahinschwinden der arbeitenden Bevölkerung. In der Sowjetunion wurden 25 Prozent der Vorkriegskapitalausstattung während des Zweiten Weltkriegs zerstört, in Deutschland 13 Prozent, in Italien 8 Prozent, in Frankreich 7 Prozent, jedoch nur 3 Prozent in Großbritannien. (Was allerdings gegen die Neuinvestitionen aus der Kriegszeit aufgerechnet werden muß.) Im Extremfall der Sowjetunion waren die Nettoauswirkungen des Krieges vollständig negativ. Die Landwirtschaft war ebenso ruiniert wie die Industrialisierung der Fünfjahrespläne vor dem Krieg. Übrig blieben eine riesige und relativ unanpassungsfähige Rüstungsindustrie, eine hungernde Bevölkerung und massive physische Zerstörung.

      Der US-Wirtschaft hingegen haben die Kriege eindeutig genutzt. Ihre Wachstumsrate war in beiden Kriegen, aber vor allem im Zweiten Weltkrieg, ungewöhnlich hoch. Sie stieg bis auf ungefähr 10 Prozent jährlich an, und zwar schneller als je zuvor und danach. In beiden Kriegen profitierten die USA von ihrer großen Entfernung zu den Schlachtfeldern und wurden zum Hauptarsenal ihrer Alliierten. Schließlich nutzten sie auch die Fähigkeit ihrer Wirtschaft, die Produktionsexpansion effizienter organisieren zu können als andere, gründlich aus. Der wahrscheinlich dauerhafteste Effekt beider Weltkriege auf die US-Wirtschaft war, daß sie während des gesamten Kurzen 20. Jahrhunderts eine globale Vormachtstellung erlangte, die erst kurz vor Ende des Jahrhunderts allmählich zu schwinden begann (siehe Neuntes Kapitel). 1914 war sie zwar schon die größte, aber noch nicht die dominierende Industriegesellschaft gewesen. Mit den Kriegen, die die USA stärkten und ihre Konkurrenten relativ oder absolut schwächten, wurde ihre Position vollständig transformiert.

      Während die USA (in beiden Kriegen) und Rußland (vor allem im Zweiten Weltkrieg) die beiden Extreme der wirtschaftlichen Kriegsfolgen repräsentierten, lag der Rest der Welt irgendwo dazwischen, aber insgesamt gesehen näher am russischen als am amerikanischen Ende der Kurve.

      4

      Es bleibt noch einzuschätzen, welche Auswirkungen die Kriege auf die Menschen hatten und welche Kosten diese tragen mußten. Die schiere Masse der Opfer an Menschenleben, auf die wir bereits zu sprechen kamen, ist nur Teil dieser Kosten. Merkwürdigerweise – wenn wir aus verständlichen Gründen von der Sowjetunion absehen – sollten die wesentlich geringeren Verlustzahlen des Ersten Weltkriegs sehr viel stärkere Auswirkungen zeigen als das ungeheure Ausmaß der Verluste im Zweiten Weltkrieg. Das bezeugt die sehr viel größere Bedeutung von Gedenkstätten und Kulten für die Gefallenen des Ersten Weltkriegs. Der Zweite Weltkrieg brachte keine entsprechenden Mahnmale »für den unbekannten Soldaten« hervor, und in der Nachkriegszeit verloren die Feiern zum »Jahrestag des Waffenstillstands« (vom 11. November 1918) immer mehr von jener weihevollen Würde, die sie in den Jahren zwischen den Kriegen geprägt hatte. Etwa zehn Millionen Tote wirkten sehr viel verstörender auf die, die niemals geglaubt hatten, ein solches Opfer bringen zu müssen, als vierundfünfzig Millionen Tote auf die, die bereits einmal durch die Erfahrung gegangen waren, daß Krieg ein Massaker ist10.

      Die Totalität der Kriegsanstrengungen und die Entschlossenheit beider Seiten, Krieg ohne Grenzen und zu welchem Preis auch immer zu führen, wurden zum Markenzeichen. Ohne diese Fakten wäre die wachsende Brutalität und Unmenschlichkeit des 20. Jahrhunderts nur schwer zu erklären. Denn daß es seit 1914 zu immer mehr Barbarei gekommen war, daran ist unseligerweise kein ernsthafter Zweifel möglich. Anfang des 20. Jahrhunderts war Folter offiziell aus ganz Westeuropa verbannt. Seit 1945 haben wir uns wieder – und ohne große Abscheu zu zeigen – daran gewöhnt, daß zumindest in einem Drittel der UN-Mitgliedstaaten Folter angewendet wird, darunter auch in einigen der ältesten und zivilisiertesten Staaten11.

      Diese zunehmende Brutalisierung lag nun nicht so sehr am latenten Potential von Grausamkeit und Gewalt, das der Mensch in sich birgt und das vom Krieg natürlich legitimiert wird – eine Legitimation, die nach dem Ersten Weltkrieg bei einem gewissen Typus des ehemaligen Soldaten (Veteran) zum Tragen kam und sich beispielsweise auch in den Todesschwadronen und »Freikorps«-Soldaten der nationalistischen Ultrarechten ausdrückte. Weshalb sollten Menschen, die selbst getötet hatten und ansehen mußten, wie Freunde gefoltert und getötet wurden, noch zögern, Feinde für einen guten Zweck zu foltern und zu töten?

      Ein wichtiger Grund für diese Brutalisierung lag vielmehr in der seltsamen Demokratisierung des Krieges. Totale Kriege verwandelten sich in »Volkskriege«, weil Zivilisten und ziviles Leben zum geeigneten und manchmal auch eigentlichen Ziel der Strategie wurden und weil in demokratischen Kriegen der Gegner ebenso dämonisiert wird wie in der demokratischen Politik – denn nur so kann erreicht werden, daß er wirklich hassenswert oder zumindest verabscheuungswürdig erscheint. Kriege, die auf beiden Seiten von Berufskämpfern oder Spezialisten oft gleicher sozialer Herkunft geführt werden, schließen gegenseitigen Respekt sowie die Akzeptanz von Regeln und sogar Ritterlichkeit nicht aus. Auch Gewalt hat ihre Regeln. Das war noch unter den Kampfpiloten beider Weltkriege zu beobachten, wie es auch Jean Renoir in seinem pazifistischen Film über den Ersten Weltkrieg, Die große Illusion, darstellte. Professionellen Politikern oder Diplomaten ist es durchaus möglich, sofern sie von Wählern und Presse ungehindert agieren können, einen Krieg zu erklären oder Frieden auszuhandeln, ohne dabei Beklemmungen gegenüber der Gegenseite zu bekommen – wie Boxer, die sich die Hand geben, bevor sie aufeinander einschlagen, und sich nach dem Kampf gemeinsam betrinken. Nur, die totalen Kriege unseres Jahrhunderts waren weit von den Mustern der Bismarck-Ära oder des 18. Jahrhunderts entfernt. Kein Krieg, in dem die nationalen Gefühle der Massen mobilisiert werden, kann geführt werden, als sei er ein Krieg zwischen Aristokraten. Der Charakter des Hitlerregimes im Zweiten Weltkrieg und die Verhaltensweisen der Deutschen in Osteuropa, selbst das Verhalten der alten, nichtnazistischen deutschen Armee, lieferten übrigens, das muß gesagt werden, gute Gründe für die Dämonisierung.

      Ein weiterer Grund für diese Brutalisierung war jedoch die neue Unpersönlichkeit der Kriegsführung, die das Töten oder Verstümmeln auf einen Akt reduzierte, der sich auf das Drücken einer Taste oder Bewegen eines Hebels beschränkte. Technologie macht ihre Opfer unsichtbar. Ein Mensch, der mit dem Bajonett erstochen oder durch das Visier einer Waffe angepeilt wird, ist sichtbar. Gegenüber den ständig fixierten Kanonen an der Westfront standen keine Menschen, sondern Statistiken – und nicht einmal reale, sondern hypothetische Statistiken, wie auch die body-counts der feindlichen Verluste während des amerikanischen Vietnamkrieges zeigten. Tief unter den Bombern befanden sich keine Menschen, die gerade verbrannt und verstümmelt werden sollten, sondern Ziele. Sensiblen jungen Männern, die sich ganz gewiß nicht hätten vorstellen können, ein Bajonett in den Bauch einer schwangeren jungen Frau zu stoßen, fiel es sehr viel leichter, Bomben auf London oder Berlin abzuwerfen oder Atombomben auf Nagasaki. Schwer arbeitende deutsche Bürokraten, die es gewiß unerträglich empfunden hätten, höchstpersönlich ausgemergelte Juden ins Schlachthaus treiben zu müssen, waren durch ihre nur indirekte persönliche Beteiligung durchaus imstande, Fahrpläne für den regelmäßigen Verkehr der Todeszüge in