„Er ist jung und kräftig“, sagte der junge Chirurg. „Er müsste rasch darüber hinweg kommen.“
„Wir müssen versuchen, seine physiologischen Funktionen so rasch wie möglich wieder ins Gleichgewicht zu bringen“, sagte Dr. Richard Berends.
„Ist klar.“
„Wenn uns das nicht gelingt, kann es noch zu erheblichen Komplikationen kommen“, erklärte der Chefarzt.
„Ich bin zuversichtlich“, sagte Dr. Büttner. „Wir bringen ihn durch.“
Nachdem der schwierigste Teil der Operation getan war, trat Dr. Berends vom Operationstisch zurück.
Jetzt spürte er, wie sehr ihn die Arbeit, der Kampf um das Leben dieses Patienten, angestrengt hatte.
„Machen Sie weiter, Herr Kollege“, sagte er zu Dr. Büttner.
„In Ordnung“, sagte der junge Chirurg und begann damit, die Operationswunde zu verschließen.
Er behandelte die Nahtstelle dann so fachgerecht, dass es Dr. Berends nicht besser gekonnt hätte. Mit sterilen Kompressen deckte er schließlich das Operationsfeld ab und sagte: „Das wär’s. Und nun auf die Wachstation mit ihm. Mehr können wir im Moment nicht für ihn tun.“
Von der Wachstation würde Volker Ahlert später auf die Intensivstation verlegt werden.
„Sollte in seinem Befinden eine Verschlechterung eintreten, möchte ich umgehend informiert werden!“, sagte Dr. Berends. Er konnte sich darauf verlassen, dass man seinen Wunsch respektierte.
Aufatmend begab er sich in den angrenzenden Waschraum, zog die Handschuhe aus und nahm die Gesichtsmaske ab. Dr. Büttner folgte ihm.
„Ich bin froh, dass Sie so schnell kommen konnten, Herr Chefarzt.“
„Sie hätten das doch auch ohne mich hingekriegt“, sagte Dr. Berends. Er hielt sehr viel von Dr. Büttner.
Der junge Chirurg wiegte den Kopf. „Ich bin nicht ganz so sicher wie Sie. Mir fehlt Ihre Routine.“
„Die kommt von selbst“, erklärte der Leiter der Wiesen-Klinik.
„Und Ihre Ruhe.“
„Die kommt mit der Routine“, sagte Dr. Berends.
„Ich hatte nach einer Operation selten so ein gutes Gefühl“, gestand Dr. Büttner. „Vielleicht deshalb, weil ich nicht will, dass irgendetwas schiefgeht.“
8
Das Wochenende hatte Tilla Deltgen bei einer Freundin auf dem Land verbracht, ohne Zeitung, Radio und Fernsehen. Sie hatte Abstand gewinnen wollen.
Abstand von Elmar Spira und Abstand von Volker Ahlert. Sie hatte mit ihrer Freundin über ihr Problem gesprochen, und diese hatte gemeint: „Du bist zu beneiden, Tilla. Während andere Mädchen gar keinen Verehrer haben, hast du gleich zwei und könntest sogar noch mehr haben.“
„Ich will aber nicht an jedem Finger einen haben“, hatte Tilla erwidert. „Ich will einen, verstehst du? Nur einen, und mit dem möchte ich so glücklich sein, wie es nur irgend geht.“
„Nichts leichter als das. Trenne dich von einem.“
„Darin liegt ja die Schwierigkeit“, hatte Tilla seufzend erklärt. „Von welchem? Jeder hat seine Vorzüge.“
„Dann wirf eine Münze hoch ...“
„Du bist verrückt“, hatte Tilla geantwortet.
„Wieso? Du stehst vor einer Weggabelung und weißt nicht, welchen Weg du einschlagen sollst. Dir ist der eine so recht wie der andere. Also lässt du das Los entscheiden.“
„Hier geht es nicht um zwei Wege, sondern um zwei Menschen“, hatte Tilla entgegnet.
„Im Grunde genommen ist das das Gleiche.“
Die junge Frau hatte geseufzt. „Und ich dachte, du könntest mir einen brauchbaren Rat geben.“
„Das habe ich ja getan, aber du willst nur deine eigene Meinung hören.“
So ratlos wie sie Bergesfelden verlassen hatte, kehrte sie wieder heim, und am Montag begab sie sich in den Supermarkt, um einzukaufen und Volker zu sehen. Als sie ihn nirgendwo entdeckte, fragte sie nach ihm.
Susanne Egner sah sie an, als käme sie vom Mond. „Sie wissen es nicht? Aber das ist doch unmöglich.“
Diese wenigen Worte und der Tonfall beunruhigten Tilla Deltgen sofort. Ihr Blick durchforschte das Gesicht der Supermarkt-Angestellten.
„Was weiß ich nicht?“, fragte Tilla nervös.
„Was geschehen ist. Es stand in allen Zeitungen. Sie brachten es in Radio und Fernsehen. Ich weiß schon nicht mehr, von wie vielen Reportern ich interviewt wurde.“
„Was für eine Sensation hat es hier denn gegeben?“, wollte Tilla mit wachsender Unruhe wissen.
„Überfallen wurden wir“, erklärte Susanne Egner. „Aber das müssen Sie doch wissen.“
„Ich war auf dem Land ... Überfallen? Meinen Sie, es hat hier so einen richtigen Gangsterüberfall gegeben? Liebe Güte, wir leben doch nicht in Chicago.“
Susanne Egner erzählte die ganze Geschichte. Die Worte flossen ihr nur so über die Lippen. Sie kam kein einziges Mal ins Stocken. Zu oft hatte sie’s schon erzählt.
Es war, als würde sie etwas, das sie gut auswendig gelernt hatte, herunter beten. Ihre Worte veränderten Tillas gesunde Gesichtsfarbe. Die blonde Frau wurde blass.
Volker Ahlert überfallen! Niedergeschossen! Heilige Madonna, das alles war geschehen, ohne dass sie auch nur die kleinste Ahnung gehabt hatte.
Volker hätte tot sein können, und sie hätte es nicht einmal gewusst. Sie war auf dem Land gewesen und hatte sich überlegt, von wem sie sich trennen sollte.
Von Elmar Spira oder... von Volker Ahlert.
Verzeih mir, Volker! dachte Tilla jetzt schuldbewusst.
Sie erfuhr, dass man Volker in die Wiesen-Klinik gebracht hatte. „Sein Leben hängt an einem sehr dünnen Faden“, berichtete Susanne Egner. „Er ist immer noch nicht über dem Berg.“
Tilla biss sich auf die Lippe. „Das ist ja schrecklich.“
„Sie lassen niemanden zu ihm“, erklärte die Angestellte ernst.
„Ich muss ihn sehen“, sagte Tilla krächzend.
„Sie können sich den Weg sparen.“
Tilla Deltgen hatte ein furchtbar schlechtes Gewissen. Während sie erwogen hatte, ob sie sich von Volker trennen sollte, hatte er mit dem Tod gerungen, tat es immer noch.
Beinahe hätte der Tod das Problem für sie gelöst. Irgendwie hatte sie das Gefühl, mit schuld an Volkers Schicksal zu sein. Es war verrückt, sich das einzureden, aber so empfand sie in diesen Minuten, und es wollte ihr fast das Herz abdrücken.
Sie dankte Susanne Egner