Jetzt war es ganz einfach so, dass Lord Kenneth keine männlichen Erben besaß. Er hatte Töchter, Zwillinge, um genau zu sein, und er vermutete, dass der Fluch damit zusammenhing, dass nicht auch er vorzeitig hatte aus dem Leben scheiden müssen, obwohl sich der verfluchte Stein noch immer in seinem Besitz befand.
Das erschien ihm jedenfalls als eine einleuchtende Antwort, immer vorausgesetzt, man glaubte wirklich an einen Fluch. Doch nun hatte sich Lord Kenneth entschlossen, endlich sein Testament aufzusetzen. Er war nicht mehr der Jüngste mit seinen 53 Jahren. Eigentlich hätte er längst daran denken müssen, seinen letzten Willen zu verfassen. Doch wie viele Menschen hielt er ein Testament für etwas sehr Endgültiges, so als würde er selbst sein Leben damit beenden.
Deshalb hatte er diese Aufgabe immer vor sich her geschoben. Aber nun war es dringend geworden. Seine Ärzte hatten ihm die schreckliche Eröffnung gemacht, dass er nicht mehr lange zu leben hatte. Viel zu lange hatte Seine Lordschaft auch die Untersuchungen hinausgezögert – so als habe er schon vorher gewusst, dass sein Herz nicht mehr lange würde durchhalten können. Doch nun hatte er seine Töchter gebeten, ihn an diesem Wochenende hier auf Castle Ferristeen zu besuchen.
Candarel und Vivian waren so gegensätzlich, wie man es bei Zwillingen kaum für möglich halten würde. Candarel war um zehn Minuten älter als ihre Schwester, damit würde sie den Titel erben. Eine Besonderheit in der Familie und verbrieftes Recht seit dem 16. Jahrhundert. Der Mann, den sie einmal heiraten würde, musste sich damit einverstanden erklären, ihren Namen anzunehmen.
Lord Kenneth hoffte nur, dass es sich dabei nicht um den jungen Jeffrey Carpenter handeln würde, mit dem sie letztens hier aufgetaucht war. In den Augen des älteren Mannes handelte es sich dabei um einen Mitgiftjäger, der seine Tochter mit Sicherheit unglücklich machen würde.
Die beiden jungen Frauen waren jetzt vierundzwanzig, eigentlich ein gutes Alter zum Heiraten. Doch Candarel schien bisher noch keine festen Absichten auf Carpenter zu haben. Überhaupt war seine ältere Tochter ein wenig aus der Art geschlagen, dachte der Lord mit einem Seufzer. Candarel hatte ein Studium aufgenommen, nach weniger als einem Jahr bereits wieder abgebrochen, und seitdem lebte sie mehr oder weniger in den Tag hinein. Sie war nur auf ihr Vergnügen bedacht, und es erschien ihrem Vater ein wenig fraglich, ob sie jemals in der Lage sein würde, die Ländereien und auch die dazu gehörigen Betriebe zu führen. Deshalb hoffte er darauf, dass sie wenigstens einen klugen verständigen Mann finden würde. Doch in den Kreisen, in denen die junge Frau sich vornehmlich aufhielt, war das eher unwahrscheinlich.
Ganz anders war dagegen Vivian, die jüngere. Bedauerlich, dass es keine Möglichkeit gab, die Erbfolge frei zu bestimmen. Diese Tochter war so recht nach dem Geschmack des Lords. Sie hatte zielstrebig ein Studium aufgenommen, und sie stand jetzt kurz vor ihrer Doktorarbeit als Psychologin. Nun gut, es war vielleicht nicht unbedingt das, was Lord Kenneth sich vorgestellt hatte, doch Vivian hatte sich dieses Fach bewusst gewählt und schien große Freude daran zu haben. Doch obwohl sie gute Kontakte in der Gesellschaft pflegte, hatte sie bis heute noch keine Anstalten gemacht, ihrem Vater einen möglichen Schwiegersohn zu präsentieren. Er konnte nicht wissen, dass seine Lieblingstochter ihn bei diesem Besuch ein wenig überraschen wollte.
Nun, Seine Lordschaft hatte dieses Wochenende sehr sorgfältig geplant. Er würde seine Töchter vorsichtig damit vertraut machen, dass er sie bald verlassen musste. Und er würde die letzten Bestimmungen in seinem Testament treffen müssen – ganz speziell über den fluchbeladenen Diamanten.
Noch ahnte er nicht, dass alle seine Pläne im Nichts aufgehen würden.
3
So groß hatte Damian Amberwood sich das Schloss nicht vorgestellt. Ein riesiger viereckiger Kasten, der auf den ersten Blick wie eine trutzige Burg wirkte.
Der Psychologe war mit Vivian zusammen in ihrem Wagen gefahren, den ließ sie jetzt einfach stehen und reichte den Schlüssel einem livrierten Hausdiener.
„Danke, Jenkins. Schön, wieder hier zu sein“, sagte sie.
„Es ist schön, Sie gesund wiederzusehen, Mylady. – Sir.“ Er nickte Damian zu und fuhr den Wagen davon.
„Kommen Sie, Damian, ich stelle Sie meinem Vater vor.“
Amberwood wurde plötzlich etwas unsicher. „Wird er nicht – nun, ich meine, ich bin ein ungebetener, unerwarteter Gast ...“
„Dieser Einwand kommt ein bisschen spät von Ihnen, finden Sie nicht“, spottete Vivian und zog ihn weiter mit sich.
„Die Freunde und Gäste meiner Tochter sind auch die meinen.“ Lord Kenneth hatte in der Empfangshalle auf Vivian gewartet, als er ihren Wagen hatte vorfahren sehen. So hatte er den kurzen Wortwechsel gehört.
Damian war auf den ersten Blick beeindruckt. Seine Lordschaft war ein sehr schlanker, hochgewachsener Mann mit eisgrauen Haaren, einem schmalen Gesicht mit einer Hakennase und gütigen, blauen Augen. Jetzt breitete er die Arme aus, und Vivian flog mit einem Jubelruf auf ihren Vater zu.
„Wie schön, dich wiederzusehen, mein Engel“, sagte er leise und mit warmer Stimme. „Und nun stellst du mir deinen jungen Mann vor?“
„Ach, Dad, bitte, er ist nicht mein junger Mann“, wehrte sie ab, konnte aber nicht verhindern, dass leichte Röte ihr Gesicht überzog. „Es ist mein neuer Arbeitskollege – eigentlich mein Vorgesetzter – ja, weißt du, das ist so ...“ Vivian verhaspelte sich ein wenig, als ihr einfiel, dass ihr Vater ja noch gar nichts von ihrer Anstellung wusste.
Lord Kenneth lächelte etwas traurig. „Ich glaube, du hast mir eine Menge zu erzählen, Vivian. Vielleicht weihst du mich sogar in deine Pläne ein?“
Damian trat rasch hinzu und stellte sich vor, wobei er die freundlichen Augen wachsam auf sich ruhen spürte.
„Sie sind mir willkommen, Mr. Amberwood. Sie machen einen guten Eindruck auf mich. Wir können uns später noch darüber unterhalten, was meine Vivian bei Ihnen tun soll. – Nun aber sollten Sie auch meine andere Tochter kennenlernen.“ Der Lord machte eine Handbewegung zu einer Tür hin, die sich wie auf ein Stichwort hin öffnete.
Damian blieb verblüfft stehen. Die Ähnlichkeit zwischen den beiden Schwestern hatte er einfach vorausgesetzt, doch das, was er jetzt sah, hätte er nicht für möglich gehalten.
Gegensätzlicher konnten Zwillinge wohl kaum sein. Candarel war blond, besaß lange wallende Haare, leuchtend blaue Augen, volle rote Lippen und eine atemberaubende Figur. Und doch hatte die Frau eine seltsam abweisende Ausstrahlung. Damian jedenfalls hätte auf der Straße nicht mehr als einen Blick an sie verschwendet – sie war das genaue Gegenteil von Vivian. Die besaß ebenfalls eine phantastische Figur, war jedoch dunkelhaarig mit klugen warmen, braunen Augen, die ganze Geschichten erzählen konnten und immer ausdrucksvoll blieben. Vivian war die Wärme und Anmut, Candarel war kalt – aber eine vollkommene Schönheit; wenn man auf Marmorbüsten stand, schoss es Damian durch den Kopf.
Betont kühl begrüßte er die Frau und bemerkte ihre Verwunderung darüber, dass ihre Erscheinung auf ihn nicht so wirkte, wie sie es von anderen Männern gewohnt war. Er wandte sich Vivian zu, und gleich fühlte er sich wohler.