Draußen erwartete die beiden eine Gruppe von gut und gern zwanzig Menschen. Der breite Raum, den sie sich zum Versammlungsort rund um einen schweren Eichenholztisch auserkoren hatten, war ohne Zweifel ein Teil des Hauses von Behlenos selbst. Eben deshalb hatte der Hausherr es sich nicht nehmen lassen, von der Stirnseite aus die Runde zu überblicken, und begrüßte Aigonn mit einem warmen, aber deutlich misstrauischen Ausdruck: „Ah, Aigonn! Wie schön, dass ein weiterer unserer wenigen Überlebenden zu uns zurückgekehrt ist. Ich hoffe, deine Verletzungen bereiten dir nicht mehr allzu viele Schmerzen!“
Aigonn verneinte, worauf Behlenos ihm einen Platz zwischen Efoh und dem Schamanen Rowilan zuwies, der ihn mit sichtlichem Interesse beobachtete. Ein Becher Met wurde ihm über den Tisch hinweg zugeschoben, dann fuhr Behlenos ohne Abwarten fort: „Nun, Aigonn, wie es scheint, haben die Götter sehr unverhofft unser Opfer erhört, als wir ihnen die junge Lhenia zum Geschenk dargeboten haben. Denn immerhin ist es ihr ganz allein durch ihr sonderbares Auftreten gelungen, dem Kampf zwischen den Eichenleuten und unserem Volk einen kleinen … Aufschub zu verschaffen.“ Er nahm einen Schluck Met, bevor er ergänzte: „Ich frage mich nur, ob du uns, Aigonn, vielleicht etwas zu diesem zweifellos göttlichen Phänomen zu sagen hast. Immerhin trug sie dein Schwert bei sich, wie man an den außergewöhnlichen Verzierungen unschwer erkennen konnte.“
Aigonn war überfragt. Er starrte mit großen Augen zu seinem Met hinab, bevor er ratlos und haarklein von dem seltsamen Vorfall berichtete, der ihm widerfahren war. Sie alle, die hohen Krieger, Behlenos, der Schamane Rowilan, Efoh, lauschten ihm schweigend, schienen am Ende seiner Ausführungen jedoch ein wenig enttäuscht.
„Das ist alles?“ Behlenos zog fragend eine Augenbraue in die Höhe. „Sie kam dir einfach zur Hilfe, als du in Not warst? Ein schöner Stoff für eine Sage, aber ich kann nicht glauben, dass es das damit gewesen sein soll!“
„Was erwartet Ihr denn? Eine Erscheinung?“
„Vielleicht.“ Diesmal war es Rowilan, der Aigonn fragend ansah. Misstrauen stieg in ihm auf, als er erkannte, welche hintergründige Botschaft in den Augen des Schamanen verborgen lag. Aigonn hatte nie etwas von den Nebelgeistern erzählt, doch er war sich sicher, dass Rowilan von seinen sonderbaren Begegnungen wusste. Aigonn hatte oft genug vermutet, dass sich der Schamane hintergangen fühlte. Einen solchen Kontakt musste man mit ihm besprechen, ihn wenigstens darüber informieren. Doch Aigonn hatte niemals etwas davon berichtet – egal, wie oft der Schamane ihn beinahe ertappt hätte.
Aigonn für seinen Teil fehlte an diesem Morgen die nötige Kraft für Diskussionen. Sein Hinterkopf schmerzte, während er nicht wusste, ob es bloß an der Wunde lag oder an der Gewissheit, die er nicht wahrhaben wollte. Rowilan bedachte ihn mit einem missgünstigen Blick, als er auch seine Frage verneinte. Und nach einem Augenblick, in welchem er seinen Blick fassungslos auf dem Met in seinem Becher hatte ruhen lassen, brach es schließlich aus ihm heraus: „Was … was ist, wenn sie überhaupt nicht tot war, Lhenia … Wenn Ihr sie bei dem Opfer versehentlich nicht getötet, sondern nur … nur betäubt habt?“
„Sie hatte eine breite, klaffende Wunde in ihrer Kehle – groß genug, dass ihr der Kopf fast vom Hals gefallen wäre, wenn diese nicht wie von Geisterhand mit jedem Herzschlag mehr geheilt wäre!“ Behlenos’ Einwand erlaubte keinen Widerspruch. Sein Blick hatte deutlich an Schärfe gewonnen, als er Aigonn beobachtete. Dieser wollte es nicht glauben. Es konnte einfach nicht möglich sein, dass eine Tote aus ihrem Grab auferstand! Die Götter waren mächtig, er hatte sie niemals unterschätzt, nie an ihnen gezweifelt – aber dies, dies überstieg seinen Verstand.
Die Atemluft schien die Zweifel bis zu Behlenos zu tragen. Es war beinahe eine Drohung, als dieser in den Raum hinein verkündete: „Die Götter haben uns ein Zeichen geschickt. Es steht außer Zweifel, dass wir ein solches Wunder nicht unbeachtet dahinziehen lassen können …“
Aigonn hörte Behlenos’ Worte nur mit geteilter Aufmerksamkeit. Sein Kopf focht mit seiner Erinnerung einen fast sinnlosen Kampf darum, was er glauben oder nicht glauben sollte.
„… Aus diesem Grund müssen wir die Gelegenheit nutzen. Seit sie nach dem Kampf verschwunden ist …“
„Sie ist verschwunden?“ Aigonns Unterbrechung brachte ihm einen scharfen Blick seines Fürsten ein.
„Wie ein Geist. Wir wollen nicht hoffen, dass die Götter sie nur für diesen einen Kampf zu uns gesandt haben. Doch so fluchtartig, wie sie in die Wälder verschwunden ist, müssen wir zumindest nach ihr suchen!“
Das Unwohlsein kam schneller, als Aigonn Behlenos’ Blick auf sich haften spürte. Eine unausgesprochene Aufforderung lag in der Luft, fast einer Drohung gleich, dass gerade er sich nicht aus dieser Affäre ziehen konnte.
Die Versammlung begann sich nach einer Reihe belangloser Gesprächsthemen aufzulösen. Gerade Aigonn suchte schneller das Weite, als Behlenos es gerne gesehen hätte. Die Nerven in seinem Hinterkopf hatten wieder zu pochen begonnen – ebenso wie die gebrochene Rippe, die Rowilan so fest mit Binden verschnürt hatte, dass er sich steif, aber trotzdem fast normal bewegen konnte. Wie leblos hing der verletzte Arm verbunden an seiner Seite. Die Fleischwunde war nicht tief, doch schmerzte sie mit jeder Bewegung. Aigonn war nicht in der Lage, sich auf etwas anderes zu konzentrieren, als er den Weg nach draußen suchte. Es war früher Morgen. Die Nebel von den Flussauen waren selbst durch die Palisaden der kleinen Siedlung gedrungen und krochen lautlos den erdigen Boden entlang.
Wenn ich nicht wüsste, dass es euch gibt – heute würde ich es glauben! Aigonn schmunzelte, als er glaubte, im Wind ein kaum hörbares Lachen zu vernehmen. Die Nebelgeister hörten ihn immer – so wie alle anderen Menschen. Seit seiner Kindheit hatte er sich gefragt, was das Besondere an ihm war – das Besondere, das die Nebelgeister nicht nur zuhören, sondern auch mit ihm Kontakt aufnehmen ließ. Manchmal zumindest. Rowilan musste diese Eigenschaft an ihm seit Jahren eifersüchtig beobachtet haben – ohne, dass er etwas hätte tun können. Aigonn als Sprachmedium zu den Geistern der Wälder und Wiesen zu benutzen, hätte seine eigene Unfähigkeit als Schamane bewiesen. Denn Aigonn war sich sicher, zu Rowilan hatten die Nebelgeister – wenn überhaupt – seit langem kein Wort mehr gesprochen.
Angestrengt fasste Aigonn sich an die Stirn. Die Wunde an seinem Hinterkopf hämmerte und strahlte den Kopfschmerz bis in seine Stirn. Er wollte schlafen – solange weiterschlafen, bis er genesen war. Ganz gleich, ob er wusste, dass sich dies nicht bewerkstelligen ließ.
„Aigonn!“
Er wandte sich um. Mit Stirnrunzeln erkannte er Rowilan neben einem Schuppen, während dieser mit scharfen Augen zu ihm hinübersah.
„Mein Herr Rowilan? Wie kann ich Euch helfen?“
„Indem du mir die Wahrheit sagst!“ Aigonn verstand die unterschwellige Drohung. Unbewusst wich er drei Schritte zurück, während Rowilan auf ihn zukam, das rote Haar wie ein Gewand auf die Schultern gelegt.
Aigonn wusste, dass der Schamane ihm nicht glauben würde. Doch er konnte nichts anderes antworten: „Ich habe Euch nicht angelogen! Niemals!“
„Ach wirklich?“ Rowilan schnellte so plötzlich nach vorne, dass Aigonn nicht ausweichen konnte. Ein erstickendes Keuchen entkam seinen Lippen, als der Schamane ihn am Kragen packte. Drohend zischte dieser: „Versuch nicht, mich zum Narren zu halten! Du hast weder das Wissen noch die Erfahrung, es mit einem Mann wie mir aufzunehmen, also rate ich dir …“
Ein Windzug, das Echo von Aigonns Herzschlag in seinen Ohren …
„… Sag mir, was du getan hast, um sie zum Leben zu erwecken oder zumindest, um den Göttern diese Tat abzuverlangen!“
Nun wusste Aigonn wirklich nicht, was er antworten sollte. Es erleichterte ihn, dass sein perplexer Ausdruck Rowilan kurze Zeit unsicher werden ließ. Doch der Schamane wurde nur noch zorniger, als Aigonn ausstieß: „Seid … seid Ihr verrückt geworden?“
„Vielleicht bin ich es, dass ich einen Menschen wie dich frei und hemmungslos herumlaufen