Ich habe nichts zu beanstanden, auch er bekommt eine Notiz mit einem Haken. Der junge Mann aus der Orga beginnt sich neben mir allmählich zu entspannen. Fast scheint es ihm peinlich, als ich einen der Fotografen, der erste Impressionen vom bunten Treiben einfängt, sehr ausführlich zu seiner Kamera befrage und mir das Gerät vorführen lasse. Zu meiner Erleichterung liegen die Menschen damit richtig, dass der Vorgang des Fotografierens für die Seelen der Abgelichteten keinerlei Gefahr darstellt. Ich kann beim besten Willen keinen gebundenen Geist in oder um das Gerät herumschwirren sehen. Als der Fotograf mir zum Schluss versichert, es sei auch kein Kobold in der Kamera gefangen, lachen wir beide. Als ob er so ein launisches Biest eine halbe Woche lang in einem kleinen Kasten einsperren könnte!
Erstaunlicherweise macht sogar die Wahrsagerin ihre Sache nicht schlecht. Ich habe mich für Handlesen statt Kartenlegen entschieden, und sie grübelt eine ganze Weile über die feinen Linien in meiner Haut. Immer wieder fängt sie dabei meinen Blick, sieht hinunter zur Hand, als könne sie in meinen Augen mehr lesen als am eigentlichen Ort der Vorhersehung. »Ihr habt mehr als ein Leben gelebt, werte Dame …«, beginnt sie zögerlich und scheint ihren eigenen Worten nicht recht trauen zu wollen. »Hier ist … eine Entscheidung … eine Auswahl. Ihr seid von einer mächtigen Person erwählt worden, euer altes Dasein aufzugeben. Ich habe noch nie … einen so heftigen Bruch … in einer Schicksalslinie gesehen.«
»Das genügt mir.« Ich ziehe ihr die Hand weg und mache stattdessen eine neue Anmerkung auf meinem Klemmbrett. Der junge Mann von der Orga atmet auf, nachdem ich ihm verkündet habe: »Wir sind hier gleich fertig. Ich will noch einen schnellen Blick in die Lager werfen, dann können wir zur Bühne gehen.«
Halb gebückt schälen wir uns aus dem kleinen Zelt der Wahrsagerin zurück ins Zwielicht des Abends. Der Junge ist für seine Verhältnisse richtig ins Reden gekommen, während er mir die einzelnen Lagergruppen aufzählt. Fast wäre er mir vorausgeeilt, als ich im Augenwinkel einen letzten Blick auf einen Gewandungsstand erhasche – und plötzlich stutze. Eigentlich hatte ich das Sortiment schon als uninteressant abgehakt. Der Verkäufer bietet vorrangig Stangenware feil, Grundausstattung, die sich Neulinge auf dem Festival gern als erstes Gewand für kleines Geld zulegen. Was er nun offensichtlich eben erst einer Kiste entnommen hat und auf einem Kleiderständer drapiert, passt so gar nicht in die banale Sammlung aus Untergewändern und Walkwollmänteln. Meine Begleitung erstarrt jäh, als er mich auf den Stand zuschreiten sieht und ich den Verkäufer direkt angehe: »Woher habt Ihr das?«
Im ersten Moment scheint der Mann sich gar nicht angesprochen zu fühlen, sondern hebt das kostbare Kleidungsstück weiter ungerührt über den Ständer. Ich will beim Näherkommen meinen Augen kaum trauen. Was der Verkäufer dort ausstellt, muss für einen Außenstehenden wie ein sonderbarer Mantel wirken. Er hat ein dunkles Lederinnenfutter und einen einfachen, viereckigen Schnitt. Eine feine Spange hält ihn am Hals zusammen. Bemerkenswert ist erst das Material, aus dem sein Äußeres gefertigt wurde. Der Mantel ist über und über mit hellen Federn bedeckt. Viele von ihnen sind erstaunlich schmutzig und wirken in die Jahre gekommen. Es scheint nichts zu sein, was ohne weiteres zum Verkauf steht.
»He da!«, werde ich nun unfreundlicher. »Was glaubt Ihr, was Ihr da habt? Woher habt Ihr diesen Mantel?«
Endlich wird der Kerl auf mich aufmerksam. Wenig beeindruckt von meinem Auftreten streicht er eine Falte glatt und empfängt mich mit den Worten: »Jetzt mal nicht so aufdringlich! Ich weiß selbst, was das für ein Schmuckstück ist. Das ist nur ein Ausstellungsstück!«
»Und wo kommt es her?« Kann es echt sein? Die Federn, das Leder, es wirkt gebraucht und vielfach getragen. Kritisch prüfe ich es auf Nähte – war es mit der Maschine genäht? Schwer zu sagen. Meine Begleitung beschwichtigt währenddessen den Verkäufer, der sich nicht mit der Auskunft zufriedengibt, ich hätte die Berechtigung, all dies hier zu prüfen.
»Jetzt hören Sie mal,« wendet er sich wieder an mich. »Das ist ein Erbstück. Fragen Sie mich nicht, wie alt das ist. Wir haben dafür keine geschützten Tiere getötet oder irgendwas dergleichen. Das sind ganz normale, und ich betone noch mal, ziemlich alte Schwanenfedern. Ich benutze das nur als Deko. Das wird nicht verkauft. Was genau gibt es für ein Problem damit?«
Ich ignoriere seine Frage. »Also wird es nie getragen?«
»Meine Frau wollte es für eine Zeremonie oder sowas mal anziehen. Damit lässt sich ein fabelhafter Schamane darstellen. Was genau ist Ihr Problem?«
Dass du nicht weißt, was du vor dir hast, antworte ich ihm in Gedanken. Offensichtlich hat er keine Ahnung, welche Macht dieses Gewand freisetzen kann – sofern es denn echt ist. Wie ich ebendies belegen soll, ist mir jedoch schleierhaft. Es ist bisher niemals nötig gewesen. Keine Trägerin lässt ihr Schwanengewand unbeaufsichtigt. Ich muss herausfinden, was mit seiner rechtmäßigen Besitzerin geschehen ist. Sofern ich recht behalte, handelt es sich nicht um diese Art Kleidungsstück, die man seinen Enkeln einfach vererbt.
Ich muss nachdenken. Diskretion ist mein oberstes Gebot, ich soll nicht zu sehr auffallen – bei aller Sorgfalt. Ein wenig Zeit ist nötig, damit ich mir Gedanken machen kann, wie ich die Echtheit dieses Kleidungsstücks nachweisen soll. Doch wer hat diesen fast knöchellangen, unpraktischen Mantel so weit abgenutzt, dass er wie viele Jahrzehnte getragen wirkt?
Da ich hier nicht weiterkomme, winke ich meine Begleitung zur Bühne – der letzte Punkt auf meiner Liste. Der Bühnentechniker, mit dem ich anfangs gesprochen habe, sieht uns bereits kommen. Er winkt mit den Notizen, die ich ihm dagelassen habe und hebt demonstrativ einen Teil der Bühnenabdeckung. Seinem Gesicht ist immer noch anzusehen, wie zwiespältig er meine Anweisungen befolgt hat. Unter der Bühne, auf der Rückseite des eigentlichen Bodens, prangt in rotem Lack ein Schriftzug. Schon von weitem fühle ich das leichte Pulsieren, das von ihnen ausgeht. Für sein erstes Mal Runenzeichnen hat der junge Mann sich gut angestellt. Ihm ist kein Fehler unterlaufen, die Wirkung vorhanden. Das Gras unter dem Schriftzug riecht nach einer größeren Menge vergossenem Met. »Für die Götter!«, meint der Techniker dazu und deutet auf die Stelle, wo der Honigwein im Gras versickert ist, wie angegeben. »Auf der anderen Seite der Bühne habe ich das Gleiche gemacht.«
Er zeigt uns ebendiese Stelle. Wieder ein Haken. Auch für die Ritualkreise, die um den Bühnenbereich gezogen sind, Trankopfer vor den Getränkeständen, Trankopfer in den Lagern. Eigentlich habe ich es nicht für möglich gehalten, als ich meine Reise zu den Menschen antrat. All das scheint unendlich fern, verblassende Erinnerungen aus der Vergangenheit. Ich sehe plötzlich mein eigenes Haus vor mir, die Schnitzerei auf dem Dachsims, dünne Rauchfäden, die aus einer Räucherschale aufsteigen. Was ich hier vorfinde, ist anders, ist so viel lückiger, von Vergessen gezeichnet. Und doch bleibt ein Gefühl der Vertrautheit, das Wehmut in mir weckt. Diese Menschen haben nicht zu viel versprochen. »Gut!«, beende ich meine Liste und sehe in das verdutzte Gesicht meiner Begleitung. Warum verdutzt? Wundert er sich gerade, dass ich lächele?
Gemeinsam treten wir den Rückweg zum VIP-Zelt an, wo wir bereits von einer kleinen Gruppe aus anderen Mitgliedern des Organisationsteams erwartet werden. Gespannt umringen sie ein kleines Fass, das gleich einem Altar in ihrer Mitte auf dem Boden steht. Sie öffnen für uns den Kreis und atmen auf, als ich ihnen verkünde: »Grundsätzlich erhaltet ihr, wie angefordert, auch von uns die offizielle Genehmigung. Diese Veranstaltung wird stattfinden – mit dem Segen der Götter.«
Doch das ist noch nicht alles. »Hinsichtlich eurer gesonderten Anfrage …« Alle Blicke richten sich auf das Fass. »… Ich hätte es nicht mitgebracht, wenn es nicht möglich wäre, es euch zu überlassen. Meine Auflagen wären, dass ausschließlich die Künstler in den Genuss dieses Mets kommen. Es obliegt euch, wie ihr ihn gerecht aufteilt. Für ein Gelage wird er nicht reichen, wenn jeder etwas abbekommen soll. Aber seid versichert, seine Wirkung entfaltet er schon in kleiner Menge. Ich verbiete