Zwei Jahre später. An einem glühend heißen 13. Juli 1967 trägt sich eines der größten Dramen in der Geschichte der Tour de France zu. Nachdem Bedoin passiert ist, liegen zwei Fahrer an der Spitze des Rennens: der Kletterspezialist Jiménez und – erneut – Poulidor. Poulidor muss Jiménez jedoch ziehen lassen, und die Verfolgergruppe dahinter, in der auch der Engländer Tom Simpson fährt, fällt am Chalet Reynard auseinander. Einer nach dem anderen muss abreißen lassen und auch Simpson kann nicht mehr. Rund zwei Kilometer vor dem Gipfel beginnt er Schlangenlinien zu fahren und fällt schließlich vom Rad. Trotz schneller medizinischer Hilfe stirbt er auf dem Weg ins Krankenhaus – siehe 13. Juli 1967 in: Major Tom, S. 62.
Jiménez ist der Erste, der den Gipfel überquert, gefolgt von Gimondi und Jan Janssen mit einer Minute und zehn Sekunden Rückstand. Janssen gewinnt die Etappe in Carpentras; er ahnt zu diesem Zeitpunkt noch nicht, welches Drama sich hinter ihm abgespielt hat.
1970. Das Peloton bleibt bis zum Fuße des Schlussanstiegs zusammen, aber dann startet Eddy Merckx, der bereits im Gelben Trikot fährt, ein beeindruckendes Solo. Drei Kilometer vor dem Gipfel scheint er jedoch außer Puste zu sein; seine Verfolger holen auf. Merckx schafft es noch, am Denkmal für Simpson seine Rennmütze zu lupfen und sich zu bekreuzigen. Völlig erschöpft erreicht er die Ziellinie oben auf dem Gipfel. Im Ziel muss er lange Zeit mit zusätzlichem Sauerstoff versorgt werden, ebenso wie der Etappenzweite Martin Van Den Bossche.
In der niederländischen TV-Dokumentation De magie van de Mont Ventoux, die am 19. Juli 2009 in der Sendereihe Andere Tijden Sport auf NOS ausgestrahlt wird, sagt Eddy Merckx: »Ein bisschen Theater, ein bisschen übertrieben… Ja, es war größtenteils gespielt. Keine Frage, ja. Jeder wollte einen Kommentar von einem und es hörte und hörte einfach nicht auf. Nach einer Weile hast du es einfach satt, und dann passiert so etwas… Ja, ich denke, es war ganz klug, weil die anderen Jungs erst eine dreiviertel oder eine Stunde später im Hotel waren.« Merckx habe den Zusammenbruch nach seinem Bekunden also lediglich vorgetäuscht, um auf diese Weise mit dem Krankenwagen schnell ins Hotel zu kommen.
1972 endet die Etappe erneut am 13. Juli auf dem Mont Ventoux, aber diesmal fährt das Feld von Malaucène aus hoch zum Gipfel. Eddy Merckx – im Gelben Trikot – und Luis Ocaña sind die Favoriten. Ocaña versucht, Merckx abzuschütteln, aber Merckx bleibt hartnäckig dran. Dann kommt plötzlich der Franzose Bernard Thévenet von hinten angestürmt und zieht vorbei. Er erreicht das Ziel 34 Sekunden vor Merckx, der seinerseits knapp vor Ocaña bleiben kann.
Bei der Tour 1974 wird der Ventoux zum ersten Mal von seiner Ostseite aus bezwungen. Merckx fährt erneut in Gelb. Der Spanier Gonzalo Aja passiert als Erster den Gipfel, 17 Sekunden dahinter folgt Poulidor. Das Ziel ist jedoch noch weit entfernt und so spielt der Ventoux keine große Rolle für den Ausgang der Etappe.
Erst dreizehn Jahre später wird der Riese der Provence erneut angesteuert und zwar diesmal wieder, wie 1958, in einem Einzelzeitfahren. Die Etappe startet in Carpentras und folgt der gleichen Route, die bereits der Marathon du Ventoux 1908 nahm. Damals betrug die Siegerzeit 2:29 Stunden. 1987 erreicht der junge Franzose Jean-François Bernard den Gipfel in 1:19:44 Stunde und übernimmt mit seinem Etappensieg das Gelbe Trikot. Am nächsten Tag muss er es jedoch an den späteren Toursieger Stephen Roche abgeben.
1994 liegt der Italiener Eros Poli – ein Baum von einem Kerl – am Fuße des Ventoux stolze 16:10 Minuten vor dem ersten Verfolger, dem Franzosen Mario Mantovan. Bei Kilometer sechs des Anstiegs greift Marco Pantani an. In der Nähe des Chalet Reynard verschärft Miguel Indurain im Gelben Trikot das Tempo. Poli leidet schrecklich im Glutofen der Mondlandschaft, aber trotzdem kommt niemand mehr an ihn heran. Er erreicht den Gipfel mehr als viereinhalb Minuten vor Pantani und ist auch der Erste, der in Carpentras über den Zielstrich fährt. Indurain gewinnt die Tour.
2000: Carpentras–Mont Ventoux. Zehn Kilometer vor dem Ziel liegen sechs Männer an der Spitze, darunter Lance Armstrong, Jan Ullrich und Richard Virenque. Dicht auf den Fersen ist ihnen Marco Pantani, der am »Gummiband« hängt. Ullrich führt die Gruppe bis zum Chalet Reynard, wo Pantani wieder Anschluss findet. Einen Kilometer weiter attackiert Pantani und löst sich von der Gruppe. Zweieinhalb Kilometer vor dem Ziel greift Armstrong wütend an und holt Pantani ein. Rad an Rad fahren sie die letzten Kilometer und Armstrong lässt Pantani auf dem Zielstrich den Vortritt.
2002: Kurz nach dem Start des Rennens bildet sich eine Spitzengruppe, die den ganzen Tag vorne bleibt. Am Fuße des Ventoux haben fünf Fahrer, darunter Richard Virenque, einen großen Vorsprung auf das Peloton mit Lance Armstrong im Gelben Trikot. Elf Kilometer vor dem Gipfel überholt Virenque den Ausreißer Alexander Botscharow. Sein Vorsprung auf die Armstrong-Gruppe beträgt rund fünf Minuten. Armstrong attackiert noch aus der Gruppe heraus, kann Virenques Sieg aber nicht mehr gefährden. Botscharow wird mit 1:58 Minute Rückstand Zweiter, Armstrong als Dritter liegt 2:20 Minuten zurück.
2009: Der Mont Ventoux steht wieder im Etappenplan der Tour und das auf ganz besondere Weise! Nie zuvor hat es am Tag vor dem Finale in Paris eine Ankunft auf dem kahlen Berg gegeben. Die 20. Etappe führt über 167 Kilometer von Montélimar zum Gipfel des Ventoux. Juan Manuel Gárate beschert dem Team Rabobank endlich den ersehnten Erfolg, indem er als Erster das Ziel am Observatorium erreicht. Der Spanier ist im Sprint seinem Fluchtgenossen Tony Martin überlegen.
2013: Die Tour de France findet zum 100. Mal statt und natürlich kann man den Ventoux bei einem solchen Anlass nicht ignorieren. Bereits zum 15. Mal ist die Tour am Mont Ventoux zu Gast und zum neunten Mal befindet sich das Ziel oben auf dem Gipfel. Nach einem unglaublichen Antritt in der Mondlandschaft kommt Chris Froome als Erster allein über den Zielstrich.
2016: Am 14. Juli stehen die Fahrer in Montpellier wieder mit flauem Gefühl im Bauch am Start. Das Ziel der zwölften Etappe liegt 185 Kilometer entfernt am Fuße des weißen Turms.
Dies ist das bisher letzte Mal, dass der kahle Berg in den Streckenplan der Tour de France aufgenommen wurde, und es wird vielen Radsportfreunden noch lange in Erinnerung bleiben, denn 2016 wird hier wieder einmal wahrlich Geschichte geschrieben. Bislang wurden stets der Mont Ventoux und Tommy Simpson in einem Atemzug genannt, von nun an kommen der Mont Ventoux und Christopher Froome hinzu.
Zunächst einmal zwingt der heftige Wind die Tour-Direktion, den Zielstrich weiter nach unten zum Chalet Reynard zu verlegen, aber was auf den letzten Kilometern bis zum neuen Ziel passiert, macht diese Etappe absolut legendär.
Der Niederländer Bauke Mollema fährt zusammen mit Chris Froome und Richie Porte vor einer Gruppe, in der unter anderem Nairo Quintana sitzt. Entlang der Strecke steht eine riesige Zuschauermenge und es gibt keine Absperrgitter, die sie zurückhält. Zwischen den Menschen auf beiden Seiten der Straße ist kaum Platz für die Fahrer. Und das Unvermeidliche geschieht: Porte kracht hinten auf ein Begleitmotorrad, das plötzlich bremsen muss, wahrscheinlich weil die Straße von einem oder mehreren Fans blockiert wird. Porte und Mollema stürzen, können aber ihre Räder rasch aus dem Gewirr befreien und weiterfahren.
Froome wird ebenfalls durch den Vorfall aufgehalten, doch er hat das Pech, dass sein Rad nach der Kollision nicht mehr fahrtüchtig ist. In Panik beschließt der Mann in Gelb, zu Fuß weiterzulaufen; es dauert dann ewig, bis er endlich ein (neutrales) Ersatzrad bekommt. Das ist jedoch zu klein für ihn und es hat auch nicht die richtigen Pedale. Erst viel später kann Froome mit einem Ersatzrad vom eigenen Team weiterfahren.
Etappensieger wird Thomas De Gendt, gefolgt von einem weiteren Belgier: Serge Pauwels. Als Dritter überquert der Spanier Daniel Navarro die Ziellinie.
Nach Ende der turbulenten Etappe führt Froomes »Spaziergang« noch zu heftigen Diskussionen: Müsste man ihn nicht eigentlich disqualifizieren; schließlich wird von den Teilnehmern der Tour doch erwartet, dass sie das ganze Rennen auf ihren Rädern bestreiten? Glücklicherweise setzt sich der gesunde Menschenverstand durch und das Gelbe Trikot ruht beim Start am nächsten Tag auf denselben Schultern.
Alle Ventoux-Etappen bei der Tour de France
1951 | 17. Etappe Montpellier–Avignon (224 km)1. Louison
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