Ich aber wende mich mit Grausen. Wortlos ziehe ich mich zurück und suche mir ein freies Plätzchen auf der Windseite, der Seemann nennt sie Luvseite, des Rauchers und steige in dem Gedränge einer Dame etwa meines Alters auf die Zehen. Zerknirscht entschuldige mich höflich, erkläre ihr (auf Englisch) in kurzen Worten den Grund meiner Hektik. Sie entschuldigt sich ebenfalls, so als wäre es ihre Schuld, mir im Weg zu stehen, und blickt mich unverwandt an. Sie schafft es kaum, den Blick von mir abzuwenden. Und ich schaffe es kaum, den Blick von ihr abzuwenden. Irgendetwas an ihrem Gesicht, irgendetwas an ihrer Stimme zieht mich in seinen Bann, scheint eine bestimmte Saite tief in meinem Innern zum Klingen zu bringen.
Plötzlich werden ihre Augen groß und rund, und im Ton einer Beschwörung flüstert sie (jetzt auf Deutsch): „Benedikt?“
Im gleichen Augenblick geht mir ein Licht auf, und ich flüstere im selben Ton: „Irmi?“ und glaube vor Überraschung das Gleichgewicht zu verlieren.
Und wieder breitet sich über Benedikt und Irmi, die vermeintlich Unbekannte, mystisches Schweigen aus. Ihre Augen glänzen verdächtig. Auch ich habe mit den Tränen zu kämpfen und muss an mich halten, um ihr nicht um den Hals zu fallen, sie an mich zu drücken, sie stürmisch zu küssen. Zugleich scheue ich eben davor zurück, und nicht nur, weil Yvonne in Sichtweite ist (und mit einem wildfremden Mannsbild flirtet). Nein, wir kannten uns in ferner Vergangenheit, Irmi und ich. Wir kannten uns unglaublich gut – und doch nicht so gut, wie ich's mir gewünscht hätte, und auch nicht so lange, wie ich's mir gewünscht hätte. Aber wir kannten uns gut genug, dass ich ihretwegen jahrelang gelitten habe wie eine Mutter, die ihr Kind verloren hat. Und genaugenommen leide ich jetzt, nach so vielen Jahrzehnten, immer noch, nur dass sich das Leiden mittlerweile, wie es eben im menschlichen Leben zu gehen pflegt, mehr ins Unterbewusste zurückgezogen hat. Und wer weiß, vielleicht hat es einiges zum Scheitern meiner bisherigen Beziehungen beigetragen (denn auch meine Lebensgemeinschaft mit Yvonne ist im Grunde längst gescheitert).
2
September 1967.
Mein Studium der Altertumswissenschaften in Wien war abgeschlossen, und ich wurde als Stipendiat der Österreichischen Akademie der Wissenschaften an das Bayerische Schwesterinstitut entsandt, um am Jahrhundertprojekt des Thesaurus linguae Latinae mitzuarbeiten. So heißt das umfassendste Lateinlexikon aller Zeiten, das unter internationaler Beteiligung in den Räumlichkeiten der Münchner Residenz entsteht.
Zu Recht behauptet ein Sprichwort, aller Anfang sei schwer. Doch ich hatte unglaubliches Glück – mehr Glück als Verstand, wie der Volksmund sagt. Eine bezaubernde Kollegin namens Irmi, ebenso jung wie ich, nahm sich meiner an und half mir unermüdlich. Sie war für mich der Inbegriff weiblicher Anmut, eine der drei Grazien, vom Olymp herabgestiegen, um einem Anfänger am Thesaurus das Leben zu erleichtern und mit ihrem Anblick seine Augen zu erfreuen und zugleich sein einsames Herz zu erwärmen, nein, in heißer Liebe entbrennen zu lassen. Lichterloh brannte es schon bald, durchbohrt von den Pfeilen jenes kecken Knäbleins, von dem Sophokles sagt: O Eros, der du in den weichen Wangen des Mädchens lauerst. Und ich erkannte die Wahrheit dieser Worte, wenn sich Irmi über mich beugte, um mir im Flüsterton etwas zu erklären, und bewunderte den Schwung ihrer weichen Wangen und spürte beinahe körperlich die Pfeile, die der in ihnen lauernde Eros gegen mein Herz abschoss.
Oh, wie gern hätte ich Irmis Wangen berührt und gefühlt, wie weich sie sind. Dass sie weich sind, wusste ich aus Sophokles, und meine Augen glaubten es bestätigen zu können. Aber meine Hände? Nein, für die waren Irmis Wangen „off limits“, wie man im Englischen sagt. Dasselbe galt für ihre aphrodisischen Lippen. Oh, wie lachten die mich an! Sie schienen den meinen zuzurufen: Berührt uns doch und fühlt, wie weich wir sind. „Off limits“ waren ihre Hände, ihre Arme, ihre Schultern, kurz, alles an ihr, ihr ganzer Körper. Nicht einmal einhängen wollte sie sich bei mir, wenn ich sie nach der Arbeit zu Fuß bis zum Eingangstor ihres Wohnhauses begleitete, obwohl dies für mich einen enormen Umweg bedeutete. Sie wohnte nämlich nahe der Theresienwiese, ich hingegen in einem Untermietzimmer in der Thierschstraße nahe der Lukaskirche. Es war zwar relativ billig, hatte aber den Nachteil, dass Damenbesuche strengstens untersagt waren. Dieser Nachteil war freilich bloß theoretischer Natur; denn Irmi wäre es nie eingefallen, mich zu besuchen. Sie lud mich ja auch ihrerseits nie ein, mit in ihre Wohnung zu kommen, wenn wir vor dem Eingang ihres Wohnhauses angelangt waren, sei es per pedes apostolorum oder auch mit dem Fahrrad. Da sie nämlich gern mit dem Fahrrad fuhr, legte ich mir bald auch selbst ein solches zu, um sie möglichst oft begleiten zu können. Nutzte ich doch jede Gelegenheit, um ihr körperlich nahe zu sein. In Gedanken war ich ohnedies ständig bei ihr. Gleich einem Träumenden, der dem Gegenstand seines Begehrens nachjagt und ihn nicht erhaschen kann, jagte mein brennendes Herz in der verzweifelten Hoffnung, die Flammen würden irgendwann überspringen, dem ihren nach, konnte es aber nicht erhaschen, geschweige denn entzünden.
Und doch, so schien es nur. In Wahrheit brannte ihr Herz gewiss nicht weniger lichterloh als das meine. Hätte sie sich sonst so liebevoll meiner angenommen? Ein Sprichwort sagt: „Wo Liebe ist, da ist Geduld.“ Und im Englischen heißt es: „All things come to him who waits.“ Ja, aber trotzdem. Warum durfte ich nicht einmal ihre Hand oder ihren Arm oder ihre Schulter berühren? Verdammt, warum ließ sie nichts von dem zu, was Liebende so zu tun pflegen? Ich wusste es nicht und weiß es, ehrlich gesagt, bis heute nicht.
Sie weigerte sich ja auch, mit mir auszugehen, ich meine, allein, zu zweit. Etwas anderes war es natürlich, wenn das ganze Kollegium aufgerufen war, gemeinsam auszugehen. Und so geschah es ein einziges Mal, dass ich mit Irmi in einem Lokal vergnüglich beisammensitzen durfte. So geschah es aber auch, dass das Schicksal seine Hand nach uns ausstreckte.
3
Fast zwei Jahre waren unterdessen vergangen, und Irmis selbstlose Hilfe bei meiner wissenschaftlichen Arbeit benötigte ich längst nicht mehr. Was ich allerdings immer noch und von Tag zu Tag dringender benötigte, das war ihre Gegenwart, ihr Anblick, ihr unnachahmliches Lächeln.
Samstag, 21. Juni 1969.
Ein heißer Sommertag.
Ein Kollege, der uns zu verlassen gedachte, hatte zu einem Abschiedsumtrunk im Hofbräuhaus eingeladen. Und da durfte ich nun stundenlang neben Irmi sitzen und nach Herzenslust ihre weichen Wangen, in denen Eros lauerte, aus nächster Nähe betrachten. Sie selber wurde, je länger, immer heiterer, gelöster, ja beschwipster. Ein paarmal lehnte sie sich, absichtlich oder unabsichtlich, an meine Schulter. Und einmal lehnte sie sogar wie zufällig ihr Knie an mein Knie. Absicht oder nicht, Zufall oder nicht – mir brachten diese allerersten Zärtlichkeiten das Blut in Wallung, und ich musste sehr an mich halten, um nicht vor allen leidenschaftlich meine Arme um sie zu werfen, und war hin- und hergerissen zwischen süßer Verzauberung und der