Alexander weilte nun schon etliche Tage auf Schloss Hambach. Er fühlte sich recht wohl, seine Arbeit machte ihm Freude, und mit seinen Mitarbeitern kam er bestens aus. Sie respektierten ihn, weil sie merkten, dass er etwas von seiner Sache verstand. Wenn einem ein Fehler unterlief oder etwas nicht so erledigt wurde, wie Alexander sich das vorgestellt hatte, dann bekam er nicht gleich einen Tobsuchtsanfall, sondern bat den Verantwortlichen zu sich und sprach in ruhigem sachlichen Ton mit ihm. Niemals kehrte er den Vorgesetzten heraus. Das gefiel den Leuten. Und noch mehr gefiel ihnen, dass sie, seit Alexander die Gutsverwaltung übernommen hatte, kaum noch persönlich mit ihrem eigentlichen Dienstherrn konfrontiert wurden, denn der kümmerte sich jetzt mehr um andere Geschäftsbereiche.
Auch Fürst Boris hatte schnell erkannt, dass er mit seinem neuen Verwalter keinen schlechten Griff getan hatte. Was und wie es der junge Mann anpackte, hatte Hand und Fuß und war von Grund auf durchdacht. Er selbst hätte es nicht besser machen können. Das gefiel dem alten Despoten und etwas, das er zuvor kaum einmal für jemand empfunden hatte, wuchs in ihm: Er fühlte Sympathie für den jungen Mann - Sympathie und Achtung.
Natürlich zeigte er ihm das nicht. Er gab sich Alexander gegenüber nach wie vor unnahbar und brummig. Doch diesen schien das nicht zu stören. Er ertrug die Launen des Fürsten mit Gelassenheit, wehrte sich mit sachlichen Argumenten, wenn er sich zu Unrecht angegriffen fühlte, und gestattete seinem Vater niemals, ihn wie einen dummen Jungen zu behandeln. Was den Fürsten, der nicht gewohnt war, dass ihm widersprochen wurde, einerseits ärgerte, andererseits aber auch wiederum imponierte.
Alexander war sich über seine Gefühle für den Vater nicht im Klaren. Zuneigung oder gar Liebe empfand er mit Sicherheit nicht für ihn. Aber es schwelte auch kein Hass auf den Fürsten in ihm. Es war irgendetwas dazwischen. Alexander suchte nach der richtigen Bezeichnung dafür. Gefunden hatte er sie bis jetzt noch nicht.
»Meine ... äh ... Was ist sie eigentlich?« Fürst Boris rieb sich nachdenklich das Kinn. »Jedenfalls ist sie die Tochter meiner Cousine Herta von Kirst, die in den Staaten verheiratet ist. Das Mädchen heißt Jenny, wenn ich mich recht erinnere, und kommt heute Nachmittag auf dem Frankfurter Flughafen an. Sie wird ...«, er schnaubte verärgert, »... dummerweise für eine Weile bei uns wohnen. Ein Narr war ich, mich darauf einzulassen. Bin ich etwa der Hüter der Kinder meiner Verwandten?«
»Wie alt ist das Kind denn?« ,wollte Alexander wissen.
»Kind!« Fürst Boris lachte unlustig. »Einundzwanzig ist das Kind. In Heidelberg studieren will es. Und ich soll auf Jenny aufpassen, damit ihr keiner etwas tut. Als ob ich das könnte. Oder soll ich sie vielleicht Tag und Nacht bewachen?«
»Warum auch?«, erwiderte Alexander. »Das Mädchen ist volljährig und muss selbst wissen, was es zu tun und zu lassen hat.«
»Natürlich«, grollte der Fürst. »Aber was ist, wenn sie sich verliebt und schwanger wird? Dann muss ich mir die Vorwürfe meiner holden Cousine anhören.«
Alexander grinste. »Wenn das tatsächlich passieren sollte, kann man Ihnen doch keine Vorwürfe machen. Es sei denn, Sie selbst ...«
»Werden Sie bloß nicht unverschämt, Wildhirt!«, rief der Fürst aufgebracht. »Ich vergreife mich doch nicht an jungen Mädchen. Ich vergreife mich ja nicht einmal an älteren, weil ich ...« Er unterbrach sich und blickte Alexander finster an. »Wie komme ich überhaupt dazu, mit Ihnen solche Dinge zu erörtern? Das ist doch völlig unter meinem Niveau. Ich sollte Sie für Ihre freche Bemerkung vor die Tür setzen, Wildhirt.«
»Dann hätten Sie aber niemand mehr, der diese Jenny heute Nachmittag vom Flughafen abholen könnte«, entgegnete Alexander mit einem amüsierten Lächeln. »Denn darauf läuft unsere Unterhaltung doch hinaus, nicht wahr?«
»So ist es«, bestätigte der Fürst und fragte sich wieder einmal mehr, wieso er die Unverschämtheit seines neuen Verwalters so gelassen hinnahm; denn schließlich war dessen Erwiderung ja nichts anderes als eine neuerliche Unverschämtheit gewesen.
»Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie das für mich übernehmen könnten.«
»Selbstverständlich übernehme ich das«, versprach Alexander. »Allerdings habe ich ein kleines Problem.«
»Und das wäre?«
»Wie soll ich das Mädchen erkennen?«
»Auch dafür ist gesorgt«, antwortete Fürst Boris. »Da ich ähnliche Befürchtungen hegte, hat mir ihre Mutter eine Fotografie neueren Datums geschickt.« Er kramte auf seinem Schreibtisch, fand endlich, was er suchte, und überreichte Alexander das Foto. »Das ist sie.«
»Hübsch.« Alexander starrte das auf der Fotografie abgelichtete blonde Mädchen fasziniert an. »Sehr hübsch.«
»Ja, aber nichts für Sie!«, brummte der Fürst. »Lassen Sie also gefälligst die Finger von ihr! Sie ist zwar von niedererem Adel als ich, aber dennoch nichts für einen biederen, dazu noch bürgerlichen Verwalter wie Sie.«
»Vielen Dank, Durchlaucht«, gab Alexander sarkastisch zurück. »So etwas nennt man Standesdünkel.«
»Es ist mir egal, wie Sie das nennen«, erklärte Fürst Boris. »Hauptsache, Sie haben mich verstanden. Hände weg von Jenny! Von anderen Dingen ganz zu schweigen. Blaues Blut muss sich durch blaues Blut fortpflanzen. Leider gibt es heutzutage viel zu viele unseres Standes, die sich nicht mehr an diese Tradition halten. Wie sonst könnte sich eine ordinäre Filmschauspielerin plötzlich Prinzessin von Soundso nennen? Das ist ein Skandal! Man sollte diesen Leuten ihren Adelstitel aberkennen und sie mit Schimpf und Schande davonjagen.«
»Sie meinen das tatsächlich ernst - Oder?«, fragte Alexander.
»Selbstverständlich meine ich das ernst«, wurde Fürst Boris laut. »Ich würde meinem Sohn niemals erlauben, eine Bürgerliche zu heiraten. Niemals!«
»Ach, Sie haben einen Sohn, Durchlaucht?«, tat Alexander erstaunt.
»Als ob Sie das nicht wüssten«, fauchte der Fürst. »Natürlich hat man Ihnen in den Tagen, die Sie hier sind, längst alles über mich und meine Familienverhältnisse erzählt. Oder wollen Sie das etwa leugnen?«
»Nein, Durchlaucht.«
»Na also. Dann tun Sie gefälligst nicht so scheinheilig. Damit möchte ich dieses Thema beenden.«
»Wie Sie wünschen, Durchlaucht«, erwiderte Alexander. »Dürfte ich abschließend aber wenigstens noch erfahren, um welche Zeit Fräulein von Kirst auf dem Frankfurter Flughafen landen wird, damit ich mich rechtzeitig auf den Weg machen kann?«
Fürst Boris nannte ihm die Uhrzeit und Ankunftshalle, dann entließ er ihn mit der erneuten Warnung: »Hände weg von Jenny!«
Abwarten, dachte Alexander, während er das Arbeitszimmer des Fürsten verließ und die Treppe zur Empfangshalle hinuntereilte. Wenn mir das Mädchen gefällt und ihr Charakter so beeindruckend ist wie ihr Aussehen, wirst du mich nicht daran hindern können, um sie zu werben. Aber vermutlich ist sie längst in festen Händen. Alles andere wäre ein Wunder. So, wie sie ausschaut. Die amerikanischen Männer müssten blind sein, wenn sie das übersehen hätten. Rechne dir also besser keine Chance aus, Junge, sonst wirst du wahrscheinlich enttäuscht. Und außerdem: Es muss ja nicht unbedingt Jenny sein. Auch andere Mütter haben schöne Töchter.
Alexander erreichte den Frankfurter Flughafen trotz etlicher Staus pünktlich, stellte seinen Wagen für teures Geld in der Tiefgarage ab und begab sich zur entsprechenden Ankunftshalle. Ein Blick auf die Anzeigetafel belehrte ihn, dass Jennys Flugzeug mit etwa halbstündiger Verspätung eintreffen würde. Also nahm er am Tresen einer kleinen Cafeteria Platz und bestellte sich ein Kännchen Kaffee. Der Geschmack des dunkelbraunen, an Spülwasser erinnernden Getränkes stand in keinem Verhältnis zu seinem Preis.
Aus der halben Stunde Verspätung wurde fast eine ganze, bis die Anzeigetafel endlich verkündete, dass Jennys Flugzeug gelandet war. Alexander bezahlte seinen Kaffee und mischte sich unter die anderen Menschen, die auf ihre Angehörigen oder Geschäftsfreunde