Wir stiegen die Wendeltreppe des Leuchtturms herab. Ed musste regelmäßig rasten, weil er von Schwindel und Übelkeit überwältigt wurde. Unten erwartete uns der Leuchtturmwärter.
„Was ist passiert?“, fragte er. „Ich habe jemanden schreien gehört.“ Er sah mein entstelltes Gesicht und seine Augen weiteten sich.
„Keine Zeit für Erklärungen“, sagte ich barsch. „Wir müssen zum Konstabler. Sofort.“
Auf der Wache lauschte Konstabler Lovelace unseren Worten mit regloser Miene, während sein Assistent alles auf einer Schreibmaschine protokollierte. Ed berichtete bis zu dem Punkt, da er das Bewusstsein verloren hatte. Dann sah er zu mir. Ich holte tief Luft und schilderte ausführlich den Kampf. Anschließend stellte Lovelace einige Fragen und erklärte uns nüchtern, dass wir unter Mordverdacht stünden. Ein Detektiv werde sich der Sache annehmen.
Als wir die Tür zum Treppenhaus unserer Wohnung öffneten, stieß Emily zu uns.
„Du wolltest doch in der Wohnung warten“, sagte Ed. „Wo bist du gewesen?“
„Spazieren.“
Ich musterte Emily scharf. War sie wieder beim Friedhof gewesen? Emily bemerkte mein Gesicht und schlug sich die Hand vor den Mund. Ich fürchtete, die Geschichte nun ein drittes Mal erzählen zu müssen, da sprang Ed für mich ein.
„Lass uns reingehen“, sagte er. „Drinnen werde ich dir alles erzählen.“
Emily war schockiert, als sie vom Tod Dianes erfuhr. Erst als sie meine Hand berührte, bemerkte ich, dass sie mich ansah. Schon seit geraumer Zeit starrte ich auf den Hals meiner Bierflasche, ohne wirklich etwas zu sehen.
„Wie geht es dir?“
Ich ruckte mit dem Kopf. „Ich … muss immerzu daran denken, was ich hätte tun können, um sie zu retten.“
„Du darfst dich nicht für ihren Tod verantwortlich machen. Hörst du?“
Ich begegnete ihrem Blick mit düsterer Miene. Du weißt nicht, wovon du redest, hätte ich beinahe gesagt. Ich schluckte die Worte hinunter. Natürlich wusste sie das.
Am nächsten Morgen besuchte uns der Detektiv. Er hatte viele Fragen, auch an Emily. Wir zeigten ihm Emilys Tür und verwiesen ihn an Gary und den Leuchtturmwärter. Ein paar Tage später erhielten wir einen schriftlichen Bescheid, dass jeglicher Verdacht von uns abgewendet sei. Was der Detektiv herausgefunden hatte, blieb ein Geheimnis. Vermutlich hatte Dianes Herkunft eine entscheidende Rolle gespielt. Sie war Gesindel aus Schwarzwasserhafen ohne Angehörige, die Vergeltung verlangten – ein Schandfleck auf dem Antlitz unserer ja so vornehmen Stadt. Ich hätte erleichtert sein sollen, aber es machte mich wütend.
Doch auch wenn der Detektiv von unserer Unschuld überzeugt war, so waren es viele Menschen nicht. Niemand wagte es, uns offen darauf anzusprechen, aber wir spürten die Blicke unserer Kommilitonen und Professoren, besonders ich, da mir die Spuren des Kampfes sogar noch heute ins Gesicht geschrieben stehen. Das Starren der Menschen war wie Salz in meinen Wunden, ihr Tuscheln wie Säure. An manchen Tagen fragte ich mich, ob Diane nicht tatsächlich durch meine Hand gestorben war. Je weiter das Geschehen in die Vergangenheit rückte, desto unschärfer wurden meine Erinnerungen. Ist Diane gestolpert? Oder habe ich ihr ein Bein gestellt? An solchen Tagen war ich froh, das Ereignis in meinem Tagebuch festgehalten zu haben. Die vertinteten Worte rücken anders als meine Erinnerungen nicht in die Ferne und lassen keinen Spielraum für Spekulationen.
Hier steht, was war.
Heute, über einen Monat später, hat sich der Wirbel um Dianes Tod gelegt. Ich verdanke Emily viel. Sie riet mir dazu, darüber zu reden, und es half. Die Menschen begriffen, dass Dianes Schicksal eine Tragödie war und kein Mord. Ich stellte Diane nie als den Menschen hin, der versucht hatte, mich kaltblütig abzustechen. Sie hatte teuer genug bezahlt. Nein, die Schuld war nicht bei Diane zu finden, nicht bei mir oder sonst wem. Die Situation war unglücklichen Umständen entwachsen, und die Schuld ein Dämon, der sich nährte vom Hass seiner Gläubiger.
Jedes Mal, da ich über Dianes Tod redete, fühlte ich mich niedergeschlagen, aber es zahlte sich aus. Man glaubte mir, empfand sogar Mitleid. Ich rief mir das Erlebnis immer wieder in Erinnerung und das war gut. So akzeptierte ich es als Teil meiner selbst.
Lange Zeit nach Dianes Tod, wenn ich die Augen schloss, sah ich ihr Gesicht – in ihrem Blick die Erkenntnis, dass sie dem Tod entgegenraste – und wenn es sehr still war, hörte ich ihren verblassenden Schrei, der sich in mein Gehör gebrannt zu haben schien, wie helles Licht sich einem in die Netzhaut brennt. Auf Emilys Anraten ging ich vor genau einem Viertel zum Leuchtturm. Ich stellte mich an das rundherum neue Geländer und verlor meinen Blick in der See. Schon jetzt überzog brauner Rostschimmel die Oberfläche des schmiedeeisernen Geländers. Ich legte meine Hände darauf, verweilte, bis meine Finger taub waren vor Kälte, und dachte lange nach.
Als ich den Leuchtturm verließ, schien ich Dianes Tod endgültig hinter mir zu lassen. Ich konnte sie immer noch sehen, doch die Erinnerungen drängten sich mir nicht auf, und ich empfand weder Trauer noch Grauen, wenn ich an ihren Tod dachte. Nur Akzeptanz. So gelang es mir, trotz aller Umstände die Prüfungen dieses Semesters mit einem guten Gefühl hinter mich zu bringen. Ich freue mich über die Ferien, die mit der Nacht des ersten Ährengolds eingeleitet wurden.
Ich habe Mirrorisnacht als Kind immer gemocht – vor allem wegen der Kupferkorne – aber nachdem ich erlebte, wie es in Treedsgow gefeiert wird, scheint mir, die Einwohner von Little Hill haben keinen Sinn für Extravaganz. Treedsgow ist stolz, den Ruf einer rational denkenden Stadt zu haben. Eine Geburtsstätte der Wissenschaften und Erfindungen. Aber am Abend vor Mirrorisnacht, ausgerechnet einem heidnischen Feiertag, pfeift es auf seinen guten Ruf. Mit geradezu kindlichem Vergnügen befolgen die Einwohner die Traditionen: Sie hängen Spiegel in ihre Fenster, tragen Masken von Katzen und Wölfen und beleben die nächtliche Stadt. Ein Kostümfest auf offener Straße. Die Kinder verbergen ihre Gesichter hinter Albenfratzen, lauern einem an Straßenecken auf und hoffen, dass man ihnen Kupferkorne hinwirft. Knallkörper zerreißen die nächtliche Stille. Ein auf angenehme Weise beißender Schwefelgeruch schwängert die Luft. Münzen klingeln auf dem Straßenpflaster und lachende Kinder jagen ihnen nach. Überall begegnet man kuriosen Gestalten und man wünscht einander eine gute Jagd. Die Rituale dieses Feiertags führen auf die norvolkische Mythologie zurück.
Mit großem Eifer erklärte Emily: „An Mirrorisnacht feiern wir den Tag, an dem Tyr die Welt von den Bösen Geistern befreite. Wir helfen ihm, sie zu verjagen. Deshalb hängen wir Spiegel in unsere Fenster. Sie sind Portale zur anderen Seite. Damit sie nur in eine Richtung funktionieren, verkleiden wir sie mit Girlanden. Wir erschrecken die Geister, indem wir Masken von Tieren tragen und Licht und Lärm machen, und sie fliehen in die Spiegel und gehen uns somit geradewegs in die Falle.“
„Und warum werfen wir den Kindern Kupferkorne hin?“
„Es heißt, Böse Geister seien bestechlich. Wir bezahlen die Kinder, die sich als Alben verkleiden, damit sie uns nichts tun.“
Ed bestimmte, den Feiertag im Ampére zu beginnen. Er lud Malcolm und Clive ein, jene Chemiestudenten, die bei einem abendlichen Bier stets für gute Unterhaltung sorgten, und vereinbarte mit ihnen, schon um vier Uhr nachmittags dort zu sein. Die Lokale seien stets überfüllt an Mirrorisnacht, erklärte er, und er wolle einen guten Platz sichern. Später, wenn es auf Mitternacht zuging, wollte er ins Hafenviertel, um sich das Feuerwerk anzusehen und die Feier im Bernoulli fortzusetzen. Ein guter Plan. Als Ed ins Ampére aufbrach, blieb ich in unserer Wohnung und wartete auf Emily. Sie arbeitete während der Ferien und würde erst am Abend heimkehren. Als sie schließlich kam, trug sie bereits ihr Kostüm: Eine Katzenmaske, die zur Hälfte ihr Gesicht verdeckte und nur Löcher für die Augen ließ.
„Du siehst hübsch aus“, sagte ich, zog mir selbst eine Wolfsmaske über das Gesicht und bot ihr meinen Arm dar. „Hübsch, aber unheimlich. Du wirst den Bösen Geistern das Gruseln lehren.“
„Bestimmt“, sagte Emily, ohne zu lächeln, und hakte sich bei mir ein.
„Alles in Ordnung?“