Die Piraten blieben mehrere Viertel auf der Vulkaninsel. Mücken zerstachen jeden Zentimeter meines Körpers. Das Sonnenlicht verbrannte mir die bleiche Haut. Es war ein guter Schmerz. Trotzdem verbrachte ich anschließend die meiste Zeit im Schutz des Regenwalds. Stets hielt ich nach giftigen Spinnen, Fröschen und Schlangen Ausschau. Ich ernährte mich von den Früchten, die dort wuchsen – von Bananen und Ananas, von Mango und Papaya, Kokosnüssen und Kiwis. Könnt ihr euch vorstellen, wie köstlich eine Frucht schmeckt, nachdem man jahrelang von Ratten, Rost und verschimmeltem Brot gelebt hat? Wie dem Verdurstenden ein Schluck klaren Wassers. Wie am Ende eines schwülen Tages die lindernde Kühle eines Gewitters. Wie … wie einem Gefangenen die Ferne.
Ich erinnerte mich an Vieles, das Fonti mich und Emily über den Regenwald gelehrt hatte. An die Bezeichnungen von Pflanzen, welche essbar waren, und wie man daraus Heilmittel herstellte. Ich sammelte einige und legte sie zum Trocknen in die Sonne. Ich erinnerte mich an die Namen von Tieren und welche gefährlich waren. Ich fing ein paar Frösche und machte aus ihren Häuten Beutel, in die ich die Kräuter steckte. Aus der Haut einer Schlange fertigte ich einen Gürtel.
Fonti hatte gut daran getan, mich auszubilden.
Doch wann immer ich eine Erinnerung aus meinem früheren Leben herüberholte, begleitete Hunger mich zurück in die Gegenwart. Er spottete über mich und meine Versuche, in das Leben außerhalb des Unterrumpfes zurückzufinden. Er drängte mich dazu, das Perl zu nehmen, das ich Teena gestohlen hatte, und erinnerte mich bei jeder Gelegenheit daran, dass ich eines Tages in den Rumpf der Swimming Island zurückkehren musste. Ich gab so selten wie nur möglich dem Verlangen nach, die Droge zu nehmen. Der Wechsel von Rausch und Verzicht verlieh mir übermenschliche Fähigkeiten. Ich war stark wie ein Bär, schnell und scharfsinnig. Ich sah das Perl auf hunderte Meter Entfernung. An manchen Tagen glühte der Rumpf der Swimming Island, als wäre er mit flüssigem Mondlicht gefüllt.
Ich versuchte mich abzulenken, indem ich durch den Regenwald streifte. Innerhalb von kurzer Zeit lernte ich, wie ein Affe durch die Baumkronen zu klettern. Hierhin, viele Meter über den Boden, konnte Hunger mir nicht folgen. So blieb ich von seiner Gesellschaft verschont, bis ich spätestens bei Sonnenuntergang auf den Boden zurückkehrte.
Die Nächte verbrachte ich am Strand. Im Unterrumpf hatte ich mir einen leichten Schlaf angewöhnt, sodass ich beim ersten Tageslicht erwachte, bevor die Sonne mir den Körper verbrannte.
Eines Nachts holte mich jedoch etwas aus dem Schlaf, lange bevor die Sonne aufging. Ich schlug die Augen auf und vor dem sternenklaren Himmel sah ich die schwarze Silhouette eines Mannes. In der Rechten hielt er ein Messer. Als er bemerkte, dass ich wach war, stach er zu. Ich war vor Schreck wie gelähmt … das würde ich jetzt wohl sagen, wenn ich nicht längst aufgehört hätte, um mein Leben zu bangen. Aber mein Verstand war eine rasiermesserscharfe Klinge, geschliffen von Furchtlosigkeit. Und Perl.
Ich riss den Arm hoch und schlug dem Meuchler das Messer aus der Hand. Die Klinge wirbelte durch die Luft und landete im Sand. Falls der Mann überrascht war, ließ er es sich nicht anmerken. Ohne zu zögern packte er den Griff einer Pistole, der aus seinem Gürtel ragte. Ich rollte mich blitzartig zur Seite – keine Sekunde zu früh. Es knallte, und Sand spritzte auf. Ich sprang auf die Beine. Der Meuchler zielte erneut. Ohne zu zögern, rammte ich ihm die Faust ins Gesicht. Seine Nase knirschte. Blut spritzte. Die Wucht meines Treffers war so heftig, dass es den Mann nach hinten warf. Er schlug mit dem Kopf an einen Stein und blieb bewusstlos liegen.
Hinter mir lachte jemand. „Genug gespielt.“ Ich wirbelte herum. Dort standen zwei weitere Männer. Einer von ihnen hatte den Lauf seiner Pistole auf mich gerichtet. Ich ließ mich augenblicklich nach hinten fallen. Wieder ein Schuss. Ich konnte den Luftzug des Projektils spüren, das um Haaresbreite über mein Gesicht hinweg pfiff. Ich vergrub meine Rechte im feinen Sand und schleuderte den beiden Männern eine Handvoll davon ins Gesicht. Sie fluchten. Ich rollte mich zur Seite. Noch ein Schuss. Sand spritzte auf. Ich kam auf die Beine und stürzte mich auf sie. Schlug dem Ersten die Pistole aus der Hand und rammte dem Zweiten die Faust in den Magen, sodass er den Säbel fallen ließ, den er gerade gezückt hatte. Ich packte sie beide am Hals und hob sie hoch – ebenso mühelos wie Teena. Ich knurrte. Sie würgten und zerrten an meinen Händen. Die Augen quollen ihnen aus den Höhlen. Fast gleichzeitig zogen die beiden Messer aus ihren Gürteln. Ich beugte die Arme und stieß die Männer von mir. Sie landeten rücklings im Sand und hielten sich hustend und würgend die Hälse. Ich hob die Pistole auf, zielte auf das Gesicht des Einen und stellte dem Anderen einen Fuß auf die Brust.
„Warum wollt ihr mich töten?“, fragte ich mit einer Stimme, die weder Gnade noch Grausamkeit verhieß. Die Männer schwiegen. Ich bemerkte den fahrigen Blick desjenigen, dem ich den Fuß auf die Brust gestellt hatte.
„Eine Bewegung und ich schieß deinem Freund das Hirn raus.“ Ich richtete den Blick auf den Anderen. „Keine Antwort in den nächsten fünf Sekunden und ich schieß dir das Hirn raus.“
„Franco hat uns geschickt“, keuchte er. „Bitte nicht schießen.“
„Wer ist dieser Franco?“
„Franco … ist eben Franco. Unser Boss.“
Der Mann, dem ich den Fuß auf die Brust gestellt hatte, streckte jäh den Arm aus und vergrub seine Hand im weißen Sand, wohl um es mir gleich zu tun und ihn mir in die Augen zu streuen. Ich richtete den Lauf des Revolvers auf sein Gesicht und feuerte. Sein Körper erschlaffte. Sein Blut sprenkelte die Wange des Anderen. Der Mann fluchte. Sein ganzer Körper versteifte sich, während er gegen das Verlangen ankämpfte, aufzuspringen und wegzulaufen.
„Wenn du wie ein Hase im Zickzack läufst, schaffst du es vielleicht“, sagte ich kühl. „Oder du sagst mir einfach, was ich wissen will. Warum will dieser Franco mich tot sehen?“
„Weil du unseren Dealer ermordet hast, Mann. Er gehörte zu unserer Bande.“
Ich ließ die Waffe sinken und lächelte freudlos. „Danke. War doch gar nicht so schwer. Jetzt mach, dass du wegkommst.“ Das ließ der Mann sich nicht zweimal sagen. Er rappelte sich auf und rannte davon. Ich durchsuchte den Toten und den Bewusstlosen und erweiterte meine persönliche Habe um zwei Revolver, ein Messer – die einzige Klinge, die mehr aus Stahl denn aus Rost bestand – sowie ein paar Zigaretten. Außerdem fand ich mehr und minder kostbare Gewürze und zwei Kugeln Perl. Anschließend zog ich mich zum Waldrand zurück, wo ich drei Zigaretten hintereinander rauchte. Ich hatte lange kein Perl mehr genommen und der Tabak half, dem Drang jetzt nicht nachzugeben. Ich dachte lange nach. Bei Sonnenaufgang hatte ich einen Entschluss gefasst. Ich ließ mich vom Geflüster der Bäume zu der Stelle führen, wo ich den Flammenwerfer und den Bärenpelzmantel versteckt hatte. Ich rüstete mir die Waffe an und verbarg sie unter dem Pelz. Dann ging ich auf direktem Wege in das Lager der Piraten. Viele Köpfe wandten sich mir zu, während ich zwischen den Holzhütten und Lederzelten durchging. Der Geruch von Schnaps, Tabak und gebratenem Fisch mischte sich hier mit dem Salzaroma des Meeres. Die Klänge einer Ziehharmonika schlängelten sich durch das Lager.
Nach einer Weile fand ich den Metzger. Er stand über eine Holzbank gebeugt und zerhackte mit seinem Beil einen riesigen Paradiesvogel. Als ich mich näherte, blickte er auf. Er grunzte und setzte seine Arbeit grußlos fort.
„Wo finde ich Franco?“, fragte ich.
„Warum sollte ich dir das sagen?“
Ich runzelte die Stirn. „Sagst du es mir oder nicht?“, fragte ich kühl.
„Zieh Leine.“
Ich wandte mich um und sah mich jäh Chemo gegenüber. Seine geschmolzene Gesichtshaut und der irre Glanz in seinem Blick machten ihn unverkennbar. Nur das Grinsen fehlte.
„Das bist doch duuu“, sagte er. Seine Stimme ähnelte der eines jungen Draufgängers, der einem seiner jüngeren Opfer begegnete. Er neigte den Kopf und blickte an mir vorbei zum Metzger. „Ist er dein Freund, Mario?“
„Wenn