Als ich auf ihn zutrat, blickte er mich an. Seine Miene war abschätzend, zeigte aber weder Misstrauen noch Angst.
„Kannst du mich mitnehmen?“, fragte ich.
„Wenn du mit anpacken kannst“, erwiderte der Mann mit tiefer Stimme. Er hatte keinen Hals, dafür eine Glatze, die seinem Kopf das Aussehen eines großen Eis verlieh.
Der Mann wies auf einen Stapel Kisten. „Die dort müssen ins Boot“, sagte er, setzte sich in Bewegung und kehrte mir dabei den Rücken zu. Kurz erwog ich, ihm das Messer ins Herz zu stoßen. Töten oder getötet werden. Aber das hier war nicht der Unterrumpf. Hier galten andere Regeln, wenngleich sie nicht weniger gnadenlos waren, wie ich schon bald lernen sollte.
Ich half dem Metzger, das Boot zu beladen, und kletterte zuletzt selbst hinein. Während wir mit einem Kran hinuntergelassen wurden, musterte er mich.
„Du kommst aus dem Unterrumpf, nicht wahr?“
„Woher weißt du das?“
„Deine Haut ist so weiß wie die eines Toten, Junge. Meinen Glückwunsch. Die meisten, die diesen Ort betreten, sterben dort. Ich glaube, Teena ist die Einzige, die unbeschadet hinein und hinaus spaziert.“ Er lachte schnaubend auf, und seine massigen Schultern bebten.
„Chemo hat es auch wieder hinausgeschafft“, warf ich ein.
„Chemo? Woher kennst du den denn?“ Ich zuckte mit den Achseln und tat seine Frage mit einer knappen Geste ab. Inzwischen wurde es unerträglich heiß unter dem Bärenpelzmantel, und ich streifte die Kapuze zurück.
„Tja, nun. Gut möglich, dass er über eines der Batteriedecks entkommen ist“, sagte der Metzger nachdenklich. „Es kommt nicht oft vor, dass jemand Widerstand leistet, wenn wir eine Stadt überfallen, aber dann kann es passieren, dass die Ausgänge zu den Batteriedecks unbewacht sind.“
Inzwischen hatte das Boot auf der Wasseroberfläche aufgesetzt. „Nimm dir ein Paddel“, sagte der Metzger und hielt mir eines hin. „Du siehst kräftig aus. So schaffen wir es schneller zum Strand.“
Während wir paddelten, sagte niemand ein Wort. Gierig verschlang ich den Anblick der Korallenriffe durch das kristallklare Wasser. Schillernde Fischschwärme flohen vor dem Schatten unseres Bootes.
Am Strand half ich dem Metzger, das Boot an Land zu ziehen.
„Danke, Junge.“ Der Mann wischte sich über die schweißnasse Stirn. „Ich will dir noch einen Rat mit auf den Weg geben. Ich war noch nie im Unterrumpf, aber von Teena weiß ich, wie es dort läuft. Dort heißt es, töten oder getötet werden, nicht wahr?“ Wahr. „Nun, wenn du Mitglied unserer Crew sein willst, musst du deine Gewohnheiten ändern. Such dir Freunde. Menschen, denen du vertrauen kannst. Du magst stark sein, aber du brauchst mindestens ein weiteres Paar Augen, das über dich wacht, während du schläfst.“
Freunde … Vertrauen … Ich kannte diese Worte, nicht aber ihre Bedeutung.
„Ich habe nicht vor, lange an Bord der Swimming Island zu bleiben“, sagte ich.
Der Metzger zuckte die Achseln. „Wie du meinst. Ich glaube allerdings, dass du es gut haben könntest. Du siehst zäh aus.“
„Ich möchte mich nicht …“ Am Leid anderer bereichern? Hatten mir tatsächlich jene Worte auf der Zunge gelegen? Ein spöttisches Lächeln legte sich über meine Lippen. Skrupel … ein funktionsloses Organ meiner Persönlichkeit. „Ich denke drüber nach.“ Der Metzger nickte und machte sich daran, sein Boot zu entladen.
Ich wandte mich um und trat auf den weißen Sand hinaus. Der Strand hatte schmal gewirkt wegen der mächtigen Baumriesen, die im Regenwald wuchsen, aber er war es nicht. Schon bald war ich durchgeschwitzt, legte den Mantel jedoch nicht ab. Ich wollte nicht, dass jemand den Flammenwerfer sah. Die Gurte der Gasflaschen scheuerten an meinem Rücken. Der Sand war heiß und verbrannte mir die Fußsohlen; ein köstlicher Schmerz, so scharf wie ein feurig gewürztes Gericht.
Erst als ich den Rand des Waldes erreicht hatte, legte ich Mantel und Flammenwerfer ab und versteckte beides zwischen den verschlungenen Wurzeln eines mächtigen Baumes. Ich machte mir erst gar nicht die Mühe, das Versteck zu kennzeichnen. Die Bäume würden mir verraten, wo die Sachen waren.
Ich blickte mich um. Es konnte keinen Ort auf diesem Planeten geben, der grüner war als dieser Wald. Die Baumkronen bildeten einen dichten Schirm, der nur vereinzelt goldene Lichtspeere durchließ. Ein dichtes Geflecht aus Moos und Farn bedeckte Boden, Wurzeln und Baumstämme. Lianen hingen in großer Zahl aus dem grünen Himmel. Die Luft war feucht. Das Wasser kondensierte auf meinem nackten Oberkörper und vermischte sich mit Schweiß. Es roch nach Humus, nach Wald und nassem Fell, nach Leben und … nun, es roch grün. Das Lärmen von Fröschen, von Vögeln und vielen anderen Tieren füllte meine Ohren. Ich konnte mich nicht satthören. Zu lange hatte ich nichts anderes als das stete Tropfen und das stählerne Knarzen des Unterrumpfes ertragen müssen, nur dann und wann unterbrochen vom Geschrei eines Süchtigen oder dem Gebrüll des Pelzes.
Ich drang tiefer in den Wald vor. Das Grün schloss mich in eine friedvolle Umarmung. Ich entdeckte einen Vogel, dessen riesiger Schnabel an eine Banane erinnerte. An anderer Stelle hockte eine Gruppe kleiner Affen in den verworrenen Ästen eines Baumes. Immer öfter sah ich Blumen mit schmerzhaft schönen Blüten, die in den Baumkronen wuchsen. Ich hatte den Namen dieser Pflanzen einst gekannt. Ein Mann namens Rico Fonti hatte ihn mich gelehrt. Mein Blick wurde glasig, als ich versuchte, mich zu erinnern. Ich tauchte in der Zeit zurück durch die Dunkelheit des Unterrumpfes in ein Leben, das ich fast vergessen hatte. Da war die Erinnerung. Ich nahm sie und kehrte mit ihr in die Gegenwart zurück. Doch die Schwärze, die zwischen der Erinnerung und der Gegenwart lag, blieb an mir haften. Die Dunkelheit des Unterrumpfes klebte an mir wie Pech und legte sich einem schwarzen Umhang gleich um meine Schultern.
Plötzlich stand Hunger vor mir. „Orchidee“, sagte er und lächelte selbstzufrieden. „Und so schön sie auch sein mag, sie ist kein Ersatz für das Perl.“
Ich stieß ein zorniges Knurren aus. In der Tat war es schon einige Zeit her, seit ich zum letzten Mal die Droge genommen hatte. Ich wandte mich um. Selbst auf diese Entfernung sah ich das pulsierende Leuchten des Perls im Rumpf der Swimming Island.
Gib es mir
Gib es mir
Ich riss den Blick los. Noch war der Genuss der Freiheit mächtiger als das Verlangen nach der Droge. Aber zweifellos würde ich dem Drang bald unterliegen. Würde in den Unterrumpf zurückkehren …
Ich stutzte. Vor mir im Wald pulsierte ein weißes Licht. Perl? Auf dieser Insel? Es wuchs eigentlich nur in Muscheln. Wie hypnotisiert ging ich darauf zu. Über die Wurzeln eines Baumes hinweg, vorbei an einem moosbewachsenen Felsbrocken und unter einem umgestürzten Baumstamm hindurch, der in der Astgabel eines anderen lag. In einem Meer aus Farn entdeckte ich die Person, die das Perl hierher gebracht hatte. Es war Teena. Die weißen Augen in ihrem schwarzen Gesicht waren auf einen Punkt wenige Meter vor ihr gerichtet. Ich folgte ihrem Blick und erst da bemerkte ich den Panther. Einen Moment lang überwältigte mich der Anblick seines schwarz glänzenden Fells. Nicht einmal die Gefahr, die von der Bestie ausging, konnte mir die Freude an ihrer Schönheit nehmen.
Teena hob den Kopf und sah wohl gerade noch das Lächeln, das meine Lippen verließ. Unsere Blicke trafen sich. Ihre reglose Miene zeigte kein Flehen. Ich verspürte bloß Desinteresse angesichts ihres nahenden Todes. Schließlich war sie es gewesen, die mich die wichtigste Regel des Unterrumpfes gelehrt hatte. Töten oder getötet werden. Ich wollte warten, dass der Panther sie tötete, und dann den Panther erledigen.
Da hörte ich die Stimme des Metzgers in meinem Kopf. Such dir Freunde. Menschen, denen du vertrauen kannst. Ich tat einen Schritt und trat auf einen Ast. Ich kann beim besten Willen nicht sagen, ob aus Versehen oder absichtlich. Der Panther wandte mir sein anmutiges Gesicht zu. Die Bestie knurrte.
Nun