Sonst brichst du dir das Herz. Susanne Mischke. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Susanne Mischke
Издательство: Readbox publishing GmbH
Серия:
Жанр произведения: Учебная литература
Год издания: 0
isbn: 9783401805702
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Treppe, die glasigen Augen des Toten im Hof, das schwarze Blut auf seiner Brust, auf den Steinen, die Fliegen …

      »Valeria, beeil dich! Der Zug wartet nicht auf uns.«

      Nach Rom. Das ganze Ausmaß ihres Elends war plötzlich wieder präsent. Trotz der Bleigewichte an Armen und Beinen stand Valeria auf, wusch sich, zog sich an. An Frühstück war nicht zu denken, ihr Magen war wie zugeschnürt, sodass Rosa schließlich zwei Panini mit Käse belegte und diese für später einpackte.

      Fieberhaft suchte Valeria nach Worten, um ihre Mutter doch noch umzustimmen. Irgendein Argument musste es doch geben, etwas, das ihr gestern nicht eingefallen war, eine magische Formel, die sie erlösen würde.

      Stattdessen kamen ihr nur Luisas Worte von gestern Nacht in den Sinn. Eine Mörderin. Eine Lügnerin.

      Sollte sie ihrer Mutter sagen, dass Luisa zurückgekommen war? Aber Valeria wusste noch zu gut, wie Rosa das letzte Mal reagiert hatte: Es sei ja ganz amüsant, wenn eine Sechsjährige eine imaginäre Schwester habe, der man einen eigenen Teller und eine Zahnbürste hinstellen müsse, hatte Rosa eingeräumt, aber bei einem Teenager sei das doch einigermaßen besorgniserregend. Dabei hatte Rosa jedoch weniger besorgt, sondern vielmehr gereizt geklungen und auch so ausgesehen.

      Von da an war Luisa verschwunden gewesen, geradeso, als hätte sie Rosas Worte gehört. Vier Jahre war das nun her, damals war Valeria dreizehn gewesen. Und nun war sie zurückgekommen.

      Die Welt ist nicht so, wie wir sie sehen. Rosas Worte. Ja, dachte Valeria, und Luisa ist der beste Beweis dafür. Dennoch erschien es ihr im Augenblick ratsamer, den Mund zu halten. Denn wenn sie sich recht erinnerte, hatten Luisa und ihre Mutter immer schon ein wenig auf Kriegsfuß gestanden.

      »Bist du so weit?«

      »Ich muss mich noch von den Hühnern verabschieden.«

      »Sei nicht albern!«

      Rosa stand exakt an der Stelle, an der gestern der Tote gelegen hatte, und klapperte mit den Autoschlüsseln. Die Entschlossenheit stand ihr ins Gesicht geschrieben. Jetzt konnte man nur noch hoffen, dass der betagte Landrover nicht anspringen würde, wie es bisweilen vorkam. Mit der ganzen Kraft ihrer Gedanken beschwor Valeria ihre Wunschvorstellung herauf: ihre Mutter, fluchend über den Motorraum gebeugt, Kleid und Hände ölverschmiert, während in Assisi der Frecciabianca ohne Valeria abfuhr. Aber wie zum Hohn startete der Wagen, kaum dass der Schlüssel das Schloss berührt und Rosas Sandalette das Gaspedal durchgedrückt hatte. Ihr blaues Sommerkleid blieb unbefleckt und weder Flüche noch Klagen über englische Autos kamen über ihre Lippen, die sie heute kirschrot geschminkt hatte.

      Das Letzte, was Valeria von ihrem Zuhause sah, war der Falke, der den Wagen spielerisch umsegelte, als dieser die Serpentinen hinabfuhr. Aus seiner Perspektive musste ihr Unglück lächerlich wirken: eine Siebzehnjährige, die in einem Auto sitzt und für ein paar Wochen zu ihrem Vater nach Rom fährt. Die schönste Stadt der Welt, wie Mr Wilson zu schwärmen pflegte. Ja, wenn man es so betrachtete … Wenn man die Sache mit dem erschossenen Mann vor der Haustür und ein paar andere Nebensächlichkeiten ignorierte, dann hatte Luisa vielleicht doch recht: Valeria sollte froh sein, von hier wegzukommen und ein Stück von der Welt da draußen zu sehen.

      Schließlich verlor sie auch den Falken aus den Augen. Stocksteif saß sie da und schaute zum Seitenfenster hinaus, damit Rosa nicht sah, wie sie versuchte, die Tränen wegzublinzeln.

      Offenbar war Rosa Tomaso über Nacht auf die Idee gekommen, ihrer Tochter das Ganze als Bildungsreise zu verkaufen. Während der Wagen die Kurven nahm und über die Schlaglöcher holperte, schwärmte sie, wie lebendig und interessant Rom doch sei, und zählte wie eine Reiseführerin all die Monumente und Museen auf, die Valeria sich dort unbedingt ansehen müsse. Sie ging sogar so weit, sich selbst anzuklagen: dass Valeria bislang noch nie in Rom gewesen sei, sei ein geradezu unverzeihliches Versäumnis, an dem sie, Rosa, die Schuld trage.

      Valeria hörte sich den ganzen Stuss mit wachsender Fassungslosigkeit an und verweigerte bockig jeden Kommentar. Die Lippen versiegelt, betrachtete sie das graue Band der Straße, die umgepflügten Felder und die überreifen Sonnenblumen, die aussahen wie schwarze Skelette mit herabhängenden Köpfen. Ein unsichtbares Gewicht lastete auf ihr und ließ sie nur schwer atmen. Ihr Leben lang hatte Valeria in Rosas Bannkreis gelebt, hatte sie bewundert und beinahe jede Minute an ihrer Seite verbracht. Rosa war für sie das Maß aller Dinge gewesen, ihr Wort war Gesetz. Erst als Valeria älter geworden war, mit zwölf oder dreizehn, hatte sie angefangen, allein Spaziergänge zu unternehmen oder hin und wieder mit Gleichaltrigen einen Nachmittag im Dorf zu verbringen. Aber noch nie hatte sie ohne Rosa irgendwo anders übernachtet. Allein die Vorstellung war beklemmend. Und nun schickte Rosa sie von einem Tag auf den anderen für unbestimmte Zeit fort.

      »Möchtest du ein Lakritzbonbon? Vielleicht hilft es ja, damit du die Zähne wieder auseinanderbekommst.«

      Endlich reagierte Valeria und fuhr ihre Mutter wütend an: »Wenn du unbedingt reden willst, dann erklär mir doch mal so einiges: Wer war der Typ, den du erschossen hast? Was hat er dir getan? Und warum muss ich jetzt von einem Tag auf den anderen nach Rom? Darüber würde ich mich wirklich gerne mit dir unterhalten. Alles andere kannst du dir sparen, auch die Lakritze!«

      Daraufhin war es Rosa, die für den Rest der Fahrt stumm blieb. In Schweigen gehüllt erreichten sie den Bahnhof von Assisi. Dorthin fuhren sie sonst, wenn Rosa zu der Ansicht gelangte, man müsse wieder einmal unter die Leute. Meist fiel dieses Bedürfnis mit dem Zeitpunkt zusammen, an dem sie neue Leinwände, Pinsel und Farben brauchte. Bei der Gelegenheit bekam auch Valeria neue Hefte, Bücher und Kleidung.

      Stumm vor sich hin starrend standen sie schließlich auf dem Bahnsteig, zwischen ihnen, wie eine Barriere, Valerias große Sporttasche. Die Lautsprecher kündigten die Einfahrt des Zuges an. Wieder spürte Valeria diesen Angstknoten in ihrem Innern.

      »Sei nett zu Alessandro«, brach Rosa das Schweigen. »Du darfst ihm nicht böse sein, weil er sich nie gemeldet hat. Es ist nicht seine Schuld, ich hatte ihn darum gebeten. Ich nahm an, das sei besser für dich.«

      Urplötzlich schlug Valerias Angst in Wut um. Wie um alles in der Welt kam ihre Mutter zu dem Schluss, es wäre besser für Valeria, wenn man ihr den Vater vorenthielt, um ihn dann nach Jahren wie ein Kaninchen aus dem Hut zu zaubern, wenn er einem nützlich erschien? Valeria hatte schon eine scharfe Antwort auf der Zunge, aber da kam neben ihnen der Zug kreischend zum Stehen. Also warf sie Rosa nur einen zornigen Blick zu und wandte sich ab.

      Die Türen öffneten sich, eine Schar deutsch sprechender Pilger und ein paar Einheimische stiegen aus. Rosa griff in ihre Handtasche und drückte Valeria einen Briefumschlag in die Hand. Den solle sie Alessandro aushändigen. Valeria steckte ihn in ihre gehäkelte Handtasche, die sie sich um die Schulter gehängt hatte, dann griff sie nach ihrer Sporttasche und stieg ohne ein Wort des Abschieds in den Zug. Rosas ausgetreckte Arme blieben leer.

      »Wiedersehen mein Kind. Du wirst sehen, Rom wird dir gefallen!«

      Da war er wieder, dieser aufgesetzt lebhafte Tonfall, allerdings unterlegt mit einem Hauch von Verzweiflung.

      Valeria antwortete nicht. Es kostete sie eine schier übermenschliche Anstrengung, sich nicht nach ihrer Mutter umzudrehen, aber Rosa sollte ruhig wissen, wie elend Valeria sich fühlte. Nein, nicht nur wissen. Rosa sollte sich ebenso elend fühlen wie sie. Der Kloß in Valerias Hals wurde größer. Sie betrat den Waggon, suchte nach der Nummer ihres Sitzplatzes, fand ihn und setzte sich hin. Der Platz neben ihr war leer, im ganzen Waggon saß nur ein knappes Dutzend Leute. Ein Pfiff, die Türen schlossen sich, sanft setzte sich der Frecciabianca in Bewegung. Valeria schielte durch das Fenster. Rosa stand auf dem Bahnsteig und winkte zaghaft mit der rechten Hand, die linke schirmte die Augen gegen das Sonnenlicht ab. Wie verloren und verletzlich sie auf einmal wirkte. Ihr Anblick versetzte Valeria einen Stich und der Impuls, ihr zuzuwinken, gewann die Oberhand. Aber ob Rosa das sehen konnte, war fraglich, denn der Zug war schon zu weit weg und wahrscheinlich spiegelten die Scheiben. Als ihre Mutter nur noch ein kleiner blauer Punkt war, sank Valeria zurück in den Sitz und ließ die schweren Tränen laufen, die sich hinter ihren Augenlidern angesammelt hatten. Sollte es