»Warum kommst du denn nicht mit?«, fragte Valeria verzweifelt. Ihr Zuhause war doch hier, schon immer gewesen. Was zum Teufel sollte sie in Rom?
»Ich kann hier nicht weg, ich habe ja bald meine Ausstellung, da ist noch so viel zu tun, du hast ja keine Ahnung.«
»Aber …«, begann Valeria, »… ich kann nicht alleine nach Rom fahren. Ich weiß doch gar nicht, was man tun muss, im Zug und … und ...« Die Zunge blieb ihr am Gaumen kleben und schien auch nicht mehr ans Gehirn angeschlossen zu sein. Ihr war klar, dass sie gerade alles andere als erwachsen klang. Sie hatte Angst, einfach nur Angst. Sie und Rosa waren zwar schon einige Male verreist, aber immer zusammen. Valeria war noch nie alleine irgendwo gewesen. Vor allen Dingen war sie noch nie in ihrem Leben länger als ein paar Stunden von Rosa getrennt gewesen. Noch vor einer Viertelstunde hatte sie angenommen, dass dieser tote Mann im Hof wohl für alle Zeiten zu den schlimmsten und furchterregendsten Erfahrungen ihres Lebens zählen würde. Aber die Aussicht, längere Zeit von Rosa getrennt zu sein und quasi ins Ungewisse reisen zu müssen, stellte alles in den Schatten.
Mit herablassender Geduld erwiderte Rosa: »Aber natürlich kannst du das. Du bist doch ein intelligentes Mädchen.«
Mr Wilson behauptete das auch immer. Valeria konnte eine Logarithmusfunktion zeichnen und mit ihrem Lehrer über Seneca diskutieren, notfalls sogar auf Lateinisch. Sie las Bücher in Englisch und Französisch und sie hätte auf Anhieb einen Vortrag über das Ökosystem Wald halten können. Aber auf das, was ihre Mutter nun von ihr verlangte, hatte sie niemand vorbereitet.
»Alessandro freut sich schon auf dich. Und seine Frau und die beiden Kinder auch.«
Als Alessandro fortgegangen war, war Valeria acht oder neun Jahre alt gewesen, sie wusste es nicht mehr genau. Seither hatten sie und ihre Mutter kaum noch von ihm gesprochen und in letzter Zeit überhaupt nicht mehr. Er war der Sohn der verrückten Ersilia, welche sich jedoch Valeria gegenüber ganz und gar nicht wie eine Großmutter benahm. Verrückt eben.
Alessandro dagegen war sehr nett gewesen, dennoch hatte er Valeria nicht besonders gefehlt. Oder falls doch, dann erinnerte sie sich nicht mehr daran. In den ersten Jahren hatte sie deswegen hin und wieder ein schlechtes Gewissen gehabt. Was war sie für eine Tochter, die ihren Vater nicht vermisste? Aber auch das hatte bald nachgelassen. Irgendwann war sie schließlich zu der Ansicht gelangt, dass man sich um einen Vater, der nie zu Besuch kam und auch nie etwas von sich hören ließ, nicht grämen musste.
»Was ist mit Mr Wilson?«, fiel Valeria ein. »Nächste Woche fängt der Unterricht wieder an.«
Ihre Mutter legte den Kopf schief und sah sie mit gespielter Nachsicht an. Sie klang jedoch ungeduldig, als sie antwortete: »Mr Wilson ist dein Privatlehrer, den ich bezahle. Deshalb fängt der Unterricht an, wenn ich es sage.«
Das Verhältnis zwischen Rosa und Valerias Hauslehrer war zurzeit nicht das beste. Er setzte ihrer Tochter mit seinen Zukunftsplänen für sie Flausen in den Kopf, hatte Valeria ihre Mutter neulich zu ihm sagen hören und befürchtet, es würde wieder dasselbe passieren wie damals, als Mr Wilson angeblich ein halbes Jahr lang krank war, nachdem er sich mit Rosa gestritten hatte. Sie hätte Mr Wilson nicht erwähnen sollen, erkannte Valeria im Nachhinein. Sie musste aufpassen, sonst würde Rosa noch wütend werden. Es war schrecklich, wenn das passierte. Dann wurde sie stumm und starr wie Holz und ihr Gesicht zu einer reglosen Maske. Im ganzen Haus konnte man dann diese Spannung fühlen, als wäre die Luft elektrisch aufgeladen, und diese Spannung war schlimmer als jedes zornige Wort.
Aber jetzt lächelte Rosa bereits wieder und sagte so gezwungen unnatürlich, als würde sie es irgendwo ablesen: »Geh jetzt rauf, Liebes, pack deine Sachen und dann leg dich schlafen. Morgen müssen wir früh raus.«
Vom Tag drang noch der Duft der Sonne aus dem Gebälk. Der Vollmond schien durchs Fenster, so hell, dass Valeria den gezackten Riss in der Decke erkennen konnte. Er stammte von dem starken Erdbeben, das die ganze Gegend erschüttert hatte, wenige Jahre bevor Valeria zur Welt gekommen war. Sie selbst konnte sich nur an leichte Beben erinnern, bei denen die Gläser im Schrank geklirrt hatten. Das Bauernhaus, in dem sie und ihre Mutter lebten, war über dreihundert Jahre alt und hatte schon so manches Beben überstanden. Valeria hatte sich stets sicher gefühlt zwischen den dicken Mauern, mit denen sich das Gebäude an den Berghang schmiegte, als sei es vor Urzeiten daraus hervorgewachsen.
Nach Rom. Die Worte hingen im Raum wie etwas Schweres, Erdrückendes. Sie lag mit offenen Augen da. Da war eine tiefe, existenzielle Angst, die ihr die Luft abschnürte, die wuchs und wuchs, bis es ihr vorkam, als bestünde sie nur noch aus Angst. Nach Rom. Weg von hier. Allein, ohne Rosa. Zu einem Vater, an den sie sich kaum erinnerte.
Es war jedoch nicht die Zugfahrt, vor der sie sich fürchtete, und auch nicht Alessandro, sondern die Gewissheit, dass sich ihr Leben ab sofort verändern würde. Sie hätte nicht sagen können, woher sie es wusste, aber sie wusste es. Vielleicht würde sie nie mehr zurückkommen, und selbst wenn doch – es würde nicht mehr so sein wie vorher.
Draußen schrie erneut ein Waldkauz und in Valeria wuchs das Bedürfnis, ebenfalls zu schreien oder irgendetwas Dramatisches zu tun. Sie war kurz davor, von Panik überrollt zu werden, als plötzlich Luisa im Zimmer stand. Ihr Profil hob sich vor dem Fenster scharf gegen das Mondlicht ab, sie hatte die Arme verschränkt und trug einen dicken Pullover, als herrsche tiefer Winter. Jetzt wandte sie Valeria ihr Gesicht zu. Sie war älter geworden, natürlich war sie das, genau wie Valeria selbst, sie war ja ihre Schattenschwester. So hatte Valeria sie immer genannt.
»Was ist mir dir los?«, fragte Luisa mit ihrer glockenhellen Stimme, in der immer ein Hauch von Spott mitschwang. »Du benimmst dich wie ein Kleinkind.«
Valeria, die steif dagelegen und den Atem angehalten hatte, richtete sich auf. »Luisa«, flüsterte sie, während sie von einem warmen Glücksgefühl durchströmt wurde. »Du bist wieder da. Endlich!«
»Was du nicht sagst.« Sie lächelte, aber dann sagte sie streng: »Sei doch froh, dass du von hier wegkommst. Weg von ihr. Sie ist eine Mörderin.«
»Sei still!«, schrie Valeria. »Das ist nicht wahr!«
»Und ob«, meinte Luisa gelassen. »Du weißt es doch genau. Eine Mörderin und eine Lügnerin. Warum sagt sie dir nicht, was los ist und wer der Kerl ist, den sie erschossen hat? Schickt dich einfach nur weg!« Luisa schnaubte verächtlich und strich sich eine Locke aus der Stirn. Dann meinte sie etwas milder: »Na, wenigstens ist es Rom. Es hätte schlimmer kommen können.«
»Aber ich will nicht allein nach Rom!«, rief Valeria erbost.
Wolken trieben Schatten über den Mond, Luisas Umriss verschmolz mit der Dunkelheit.
»Luisa?«
Keine Antwort. Valeria wartete. Aber im Grunde wusste sie, dass Luisa bereits weg war, denn sie spürte sie nicht mehr. Stattdessen hörte sie Schritte vor der Tür, ihre Mutter kam ins Zimmer gestürmt und knipste das Licht an. Mit ihrem langen Nachthemd und dem offenen lockigen Haar sah sie aus wie die Maria Magdalena auf dem Gemälde, das in der Dorfkirche über dem Seitenaltar hing.
Eine Mörderin.
»Was ist passiert? Mit wem redest du?«
Rosas Blick war hellwach und ihre Stimme klar. Demnach hatte auch sie noch nicht geschlafen.
»Ein Albtraum«, antwortete Valeria. Noch angestachelt von Luisas Worten setzte sie aufmüpfig hinzu. »Wundert dich das etwa?«
Rosa seufzte nur und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn. »Schlaf jetzt«, sagte sie und ging wieder hinaus.
Valeria rollte sich ein wie ein Embryo und schloss die Augen. Luisas Besuch hatte ihr gutgetan. Die übergroße Angst war nun einer fiebrigen Aufregung gewichen. Was wahrscheinlich ganz normal war vor einer Reise.
»Valeria! Aufstehen!«
Sie blinzelte, streckte sich. Fahles Licht sickerte ins Zimmer. Was sollte denn das, es war doch noch viel zu früh? Die Sonne hatte es noch nicht einmal über den Bergkamm geschafft. Mit dem nächsten Wimpernschlag