»Was haben Sie dann in Aksum gefunden?«, fragte Joe neugierig.
»Ich zeige es Ihnen«, sagte Einstein und verließ die Küche. Kurz darauf kam er mit einer Papprolle zurück, die Joe schon am Flughafen aufgefallen war. Einstein öffnete den Plastikverschluss an der Seite und zog einen Papierbogen heraus, den er auf dem Küchentisch entrollte. Zum Vorschein kam ein etwa DIN A2 großer Bogen von seltsam heller Färbung und einer brüchigen Struktur. Er sah aus wie abgeriebene Haut.
»Was ist das?«, fragte Rebecca.
»Das werden Sie gleich erfahren«, gab Einstein geheimnisvoll zurück.
Der weiße Untergrund des Papiers begann sich zu bewegen, so als würde die Färbung wie Wellen über die Karte hinwegziehen. Dunkle Striche kamen zum Vorschein und breiteten sich in rasendem Tempo aus. Bald hatten sie den kompletten Bogen bedeckt und bildeten ein engmaschiges Gewirr von Linien, die in- und durcheinanderliefen. An einigen Stellen kamen größere schraffierte Flächen mit unregelmäßigen Begrenzungen zum Vorschein, an anderen erschienen dunkle Flecken. Nach einer Minute war der Bogen nahezu komplett mit Linien und Flächen bedeckt.
Joe hob erstaunt den Kopf. »Eine Karte!«
Einstein nickte.
»Und die haben Sie aus Aksum?«, fragte Rebecca.
»Aus der Wohnung, die Alexanders Eltern dort seit ihrer Ausgrabung gemietet haben«, bestätigte Einstein.
»Was ist das für ein Ort?«, fragte Joe.
»Das konnten wir nicht herausfinden«, erwiderte Einstein. »Es gibt keine Legende.«
»Fühlt mal das Material«, sagte Joe und rieb den Kartenrand zwischen seinen Fingern. »Das ist kein Papier, das fühlt sich eher an wie Gummi.«
Plötzlich stutzte Einstein und zog seine Brille aus der Jackett-Tasche. »Und das ist noch nicht mal das Merkwürdigste«, sagte er und nahm die Karte unter die Lupe. »Gestern, als wir die Karte in Aksum einpackten, sah sie vollkommen anders aus.«
»Sind Sie sicher?«, fragte Joe erstaunt.
»Ich habe ein Foto von der Karte gemacht«, erwiderte Einstein und zog sein Smartphone aus der Tasche. Er zeigte Joe und Rebecca das Bild.
»Das Liniengewirr auf der Karte sieht wirklich ganz anders aus«, stellte Rebecca fest. »Besonders die dunklen Flecken. Auf dem Foto ist kein einziger zu sehen.«
»Erzählen Sie uns genau, wie Sie die Karte gefunden haben«, bat Joe. »Und wieso Sie nach Aksum gefahren sind.«
Einstein nahm die Brille ab und rieb sich die Augen. Der lange Flug und die turbulenten Ereignisse hatten an seinen Nerven gezehrt.
»Aksum war unsere letzte Hoffnung«, sagte er. »Zu allen anderen Stationen unserer Reise führte uns irgendein Hinweis. Nachdem wir alle Orte, an denen die Mercurius’ jemals gegraben hatten, aufgesucht und nichts gefunden hatten, blieb nur noch Aksum übrig.«
»Obwohl kein Hinweis dorthin führte«, stellte Rebecca fest.
Einstein nickte. »Das machte uns schließlich stutzig. Uns kam der Gedanke, dass vielleicht genau das der Hinweis war: dass es keinen gab. Also flogen wir nach Äthiopien und suchten den Ort auf, an dem die Bundeslade mit den zehn Geboten von Moses aufbewahrt werden soll.«
»Die zehn Gebote?« Joe bekam große Augen. »In Äthiopien?«
»In der Bibel steht, dass Gott den Auftrag zur Herstellung der Bundeslade gab, um in ihr die Steintafeln mit den zehn Geboten aufzubewahren, die er Moses auf dem Berg Sinai übergeben hatte«, erklärte Einstein. »Es gibt viele Geschichten darüber, was mit der Bundeslade geschah und wo sie schließlich landete. Eine davon besagt, dass sie in einer Kirche in Aksum aufbewahrt wird.«
»Haben Alexanders Eltern nach ihr gesucht?«, fragte Rebecca. Einstein schüttelte den Kopf. »Aksum gilt als heilige Stätte und es gibt dort zahlreiche archäologische Grabungen. Die Mercurius’ haben sich vor allem für die Katakomben unter dem großen Stelenfeld interessiert. Dort haben sie gemeinsam mit David Phillipson gegraben – und dort bin auch ich ihnen vor vielen Jahren zur Hand gegangen.« Er seufzte.
»In Aksum haben Alexanders Eltern doch auch die Phiole des ewigen Lichts gekauft, oder?«, fragte Rebecca.
»Ein Straßenhändler bot sie ihnen an«, bestätigte Einstein. »Der junge Herr und ich hofften, dass wir ihn wiederfinden und nach einem Hinweis auf Alexanders Eltern fragen könnten. Doch der Händler war tot. Ermordet. Nur wenige Tage, bevor wir in Aksum eintrafen.«
»Ermordet?«, fragte Rebecca. »Von wem?«
»Die örtliche Polizei sprach von einer Familienfehde«, erwiderte Einstein. »Nur war die feindliche Familie zum Zeitpunkt der Tat gar nicht vor Ort, sondern hielt sich bei der Hochzeit eines Verwandten in Mekele auf, rund hundert Kilometer entfernt. Uns kam es unwahrscheinlich vor, dass jemand während der Hochzeit eines Familienmitglieds einen Mord begeht. Zumal die Fehde nach Aussage eines Angehörigen des Opfers ein paar Wochen zuvor beigelegt worden war.«
Joe zog die Stirn kraus. »Wer hat den Straßenhändler dann getötet?«
»Möglicherweise derselbe, der die Wohnung von Mr und Mrs Mercurius durchsucht hat«, sagte Einstein.
Rebecca und Joe trauten ihren Ohren nicht. »Sie wurde durchsucht?«
Einstein nickte. »Und zwar gründlich. Die haben sogar die Dielen aus dem Boden gehebelt, um darunter nachzusehen.«
»Sekunde mal«, sagte Joe. »Sie wollen damit also sagen, dass jemand, kurz bevor Sie und Alexander nach Aksum kamen, das Haus von Alexanders Eltern durchsucht und den Händler ermordet hat, der ihnen vor über einem Jahr die Phiole des ewigen Lichts verkauft hat?«
»Es ist nicht gesagt, dass diese Dinge miteinander in einem Zusammenhang stehen«, erwiderte Einstein. »Aber ich finde es eigenartig, dass der Einzige, der uns etwas über das Ehepaar Mercurius hätte berichten können, ermordet wird, kurz bevor wir in Aksum auftauchten.«
»Das ist allerdings merkwürdig«, pflichtete Rebecca bei.
»Und dieselben Leute haben nun vielleicht Alexander gekidnappt«, überlegte Joe laut. Er steckte die Hand in die Hosentasche und zog einen fingernagelgroßen glitzernden Gegenstand heraus. »Das hier habe ich in der Kabine direkt neben der mit dem Durchbruch gefunden.«
»Was ist das?«, fragte Einstein.
»Eine weitere Merkwürdigkeit in einer ziemlich langen Liste von Merkwürdigkeiten«, erwiderte Joe.
»Wo haben Sie die Karte eigentlich gefunden?«, fragte Rebecca.
»In der Wohnung von Mr und Mrs Mercurius«, erwiderte der Butler.
»Ich dachte, die wurde gründlich durchsucht«, wunderte sich Joe.
»Ja, das stimmt. Aber die Karte wurde nicht gefunden. Sie war in eine Jacke eingenäht. Und zwar doppelt. Die Einbrecher haben zwar bei allen Jacken das Futter rausgetrennt, aber eben nur einmal, nicht zweimal.«
»Wieso haben Sie sie dann gefunden?«, fragte Rebecca.
»Der junge Herr hat sie gefunden«, erklärte Einstein. »Es handelte sich um seine Jacke und er war über die Zerstörung so wütend, dass wir versuchten, sie wieder zusammenzunähen. Dabei stießen wir auf eine zweite Naht, deren Zweck