Milo überquerte die Union Street. Ein Lieferwagen bremste stark ab. Der Fahrer zeigte Milo einen Vogel, aber mein Kollege kümmerte sich nicht weiter darum. Er rannte unbeirrt weiter.
Ich setzte per Handy eine kurze Meldung ans Field Office ab, damit Verstärkung geschickt wurde und folgte Milo dann über die Straße.
Das Gebäude, aus dem geschossen worden war, wirkte verlassen. Einige der Fenster waren mit Spanplatten vernagelt worden. Offenbar handelte es sich um ein Gebäude, das kurz vor der Sanierung stand. In diesem Teil Brooklyns gab es zurzeit viele davon.
Der Eingang war offenbar zur anderen Seite ausgerichtet.
Ich folgte Milo durch die enge Gasse von etwa zwei Yards Breite, um zur Rückfront des Gebäudes zu gelangen.
Augenblicke später erreichten wir einen Hinterhof. Ein Geländewagen vom Typ Ford Maverick startete gerade mit durchdrehenden Reifen und fuhr in einem Höllentempo auf die schmale Ausfahrt zu. Vom Fahrer war kaum etwas zu sehen. Nur einen kurzen Moment blinkte etwas auf. So als ob er eine Brille mit spiegelnden Gläsern trug.
Milo zielte mit seiner Dienstwaffe auf die Hinterreifen.
Aber in diesem Moment tauchte ein Fahrradkurier auf, der die Ausfahrt in entgegen gesetzter Richtung passierte und dabei ein hohes Tempo drauf hatte.
Wahrscheinlich nahm er den Weg über dieses Grundstück einfach als willkommene Abkürzung, um schneller zur Union Street zu gelangen.
Der Maverick hielt rücksichtslos auf ihn zu. Mit einem Sprung versuchte sich der Kurier zu retten. Er knallte auf die Motorhaube, während das Fahrrad vom Kuhfänger erfasst wurde.
Der Kurier rutschte seitlich vom Kotflügel des Maverick herunter und knallte mit dem Helm gegen die Hauswand. Der Geländewagen brauste inzwischen weiter, zermalmte das Rad aus ultraleichter Karbonfaser unter seinen hohen Rädern und fädelte sich dann ziemlich brutal in den Verkehr ein.
Milo senkte die Waffe.
Ich ebenfalls.
Ich spurtete los, während Milo bereits das Handy am Ohr hatte, um dafür zu sorgen, dass möglichst schnell ein Ambulanz-Team des Emergency Service eintraf.
Augenblicke später hatte ich den Verletzten erreicht.
Er rührte sich.
Blut sickerte unter seinem Helm hervor, der ihm aber dennoch wohl das Leben gerettet hatte. Er lag in seltsam verrenkter Haltung da.
„Ganz ruhig“, sagte ich. „Es kommt gleich jemand.“
Milo spurtete an mir vorbei, bis zur nahen Hauptstraße. Aber er kehrte rasch zurück und schüttelte den Kopf. Das hieß wohl, dass uns der Flüchtige erst einmal durch die Lappen gegangen war.
In der Ferne waren bereits die Sirenen von City Police und Emergency Service zu hören.
6
Der verletzte Kurier hieß George Dalbandio, wie aus der ID-Card seines Kurierdienstes hervorging. Er bestätigte uns, den Weg über diesen Hinterhof oft als Abkürzung zu nehmen. Ansonsten beteuerte er immer wieder nur, dass der Maverick ganz plötzlich aufgetaucht sei und er ihn erst im letzten Moment gesehen hätte.
„Wieso hat der Kerl noch Gas gegeben?“, keucht Dalbandio. „Ich höre das immer wieder in meinem Kopf. Wie der Motor aufheult. Warum hat er nicht gebremst?“
„Wir werden den Fahrer kriegen“, versprach ich. „Ganz bestimmt.“
„Das hoffe ich! So einer sollte nicht mehr den Verkehr unsicher machen!“
„Haben Sie den Fahrer sehen können?“, hakte Milo nach.
„Nein, tut mir leid. Das ging alles so schnell...“
Die Diagnose des Notarztes war trotz des erschreckenden Bildes, das sich uns zunächst geboten hatte, recht ermutigend. Schürfungen, Quetschungen, Stauchungen und wahrscheinlich zwei gebrochene Beine und eine starke Gehirnerschütterung lautete die erste Bilanz. Ob es vielleicht noch Schäden an Schädel und Wirbelsäule gab, mussten die Röntgenbilder erweisen.
„Immerhin ist er ansprechbar“, erklärte der Arzt. Die Tatsache, dass George Dalbandio einen guten Helm und Protektoren trug, hatte ihm das Leben gerettet.
Kollegen der City Police sicherten den Tatort vor dem Hotel Lazarr. Mitarbeiter der Scientific Research Division waren unterwegs, brauchten um diese Zeit aber sicher noch eine gute Stunde, bis sie es von ihren Labors in der Bronx bis nach Brooklyn geschafft hatten.
Milo und ich sahen uns in dem Gebäude um, aus dem geschossen worden war.
Es gab eine zum Hinterhof ausgerichtete Laderampe. Das dazugehörige Tor war fest verschlossen, aber der Personaleingang zehn Yards weiter nicht. Jemand hatte die Tür aufgebrochen.
Im Erdgeschoss befand sich ein Lagerraum, den man im Moment wohl eher als Sondermülldeponie bezeichnen musste. Halb verrostete Fässer standen dort, ein Geruch, der an faule Eier erinnerte, hing in der Luft.
Es gab einen großen Lastenaufzug in die oberen Etagen – aber da der Strom abgeschaltet war, funktionierte der nicht.
Wir nahmen eine Treppe. In den oberen Geschossen lagerten vornehmlich Verpackungsabfälle. Vor allem Kunststoff, aber auch vor sich hin rottende Pappe. Ratten huschen über den Boden.
Milos Vermutung, dass aus dem fünften Stock heraus auf Sonny D’Andrea geschossen worden war, stellte sich als richtig heraus.
In eine der Fensterscheiben war ein Loch geschlagen worden, dessen Ränder dunkel verfärbt waren.
Schmauchspuren, so nahm ich an.
Der Boden davor war von einer grauen Staubschicht bedeckt, in der frische Fußspuren zu sehen waren. Außerdem Abdrücke, die von ausgeworfenen Patronenhülsen stammen konnten. Offenbar hatte der Täter Zeit genug gehabt, sie einzusammeln.
„Ich bin sicher, dass von hier aus geschossen wurde!“, sagte Milo. Wir hielten Abstand von dem Bereich vor dem Fenster, um den später eintreffenden Kollegen der SRD nicht die Arbeit zu erschweren.
„Jedenfalls hatte Sonny D’Andrea mit seinen Befürchtungen Recht“, stellte ich fest. „Jemand hat alles daran gesetzt, ihn umzubringen.“
„Dieser Mann und seine Mafia-Vergangenheit sind mir alles andere als sympathisch, aber ich frage mich, weshalb gerade jetzt jemand seinen Tod wollte“, sagte Milo. „Schließlich hatte er sich längst aus dem Geschäft zurückgezogen.“
„Wissen wir das so genau, Milo? Vielleicht war er nur besonders clever.“
„D’Andrea war doch ein Handlanger von Tony Damiani und seiner Familie.“
Der Name sagte mir natürlich etwas, auch wenn ich selbst weder mit den Ermittlungen gegen Damiani noch gegen D’Andrea zu tun gehabt hatte. Damiani hatte sich vor zehn Jahren der Verhaftung durch Flucht entzogen und lebte nach unseren Erkenntnissen wahrscheinlich in Marokko – einem Land, mit dem die USA kein Auslieferungsabkommen hatten. Der Fall war in den letzten Jahren immer wieder einmal in Besprechungen unseres Field Office erörtert worden, weil es je nach außenpolitischer Lage Bemühungen des Justizministeriums gegeben hatte, vielleicht doch noch an Damiani heranzukommen.
„Vielleicht