Mit Bernd Stölze hatte sich Thomas hervorragend verstanden. Ganz im Gegensatz zu dem früheren Freund von Ina, dem Kardiologen Dr. Heinz Flemming. Dessen feinfühlige, sanfte Art missfiel Thomas. Da war ihm die rau herzliche Weise, wie Dr. Bernd Kluge sich gab, viel sympathischer. Zwischen den beiden hatte sich eine richtig tiefe Freundschaft entwickelt und nun würde Bernd nie mehr kommen, sollte sein Porsche nicht mehr vor der Tür stehen. Eigentlich, sagte sich Thomas, hat Tante Hilde gar keinen Grund zum Weinen.
Sie hat Flemming immer viel lieber gemocht und Kluge nie ausstehen können. Wieso weint sie jetzt?
Er sagte nichts, blickte nur auf seine junge dunkelhaarige Frau, die auch ein wenig blass wirkte, was aber nichts mit dem Schock zu tun hatte, der auf die Nachricht von Bernds Tod hin über die Familie hereingebrochen war.
Marie unterbrach die Stille, sah Thomas an und fragte: „Hat sie denn noch einmal telefoniert?“
Thomas nickte. „Hat sie. In Genf haben sie das bestätigt. Der Wagen ist in den Bergen von der Straße abgekommen und in eine tiefe Schlucht gestürzt. Es hat Stunden gedauert, bis die bis zur Unkenntlichkeit verstümmelten Toten geborgen werden konnten. Das Auto hatte auch noch Feuer gefangen. Die Toten sind alles Ärzte. Sie werden in ihre Heimatländer übergeführt. Sie werden Bernd hierherbringen.“
Marie, die in Augenblicken der Aufregung Schwierigkeiten mit der deutschen Sprache hatte, verfiel jetzt auf ihre Muttersprache und sagte auf Französisch: „Wenigstens gut, dass sie nicht hinfliegen muss, um ihn zu identifizieren. Manchmal verlangen die Behörden das.“
„Nein, das haben sie wohl nicht verlangt“, sagte Thomas. Er wiederum hatte deutsch gesprochen.
Die Kleine begann unruhig zu werden.
„Ich muss sie in einer halben Stunde stillen“, erklärte Marie und erhob sich. „Ich gehe jetzt nach oben. Soll ich denn vorher noch nach Ina schauen?“
„Nein, lass sie am besten alleine“, entschied Thomas. „Wenn ich doch wüsste, wie ich ihr helfen könnte ...“
Das Telefon stand neuerdings im Wohnzimmer und als es nach Mitternacht klingelte, hörte es im Haus niemand. Denn Opa, der einzige, der im Erdgeschoß schlief, hatte sich Wattepfropfen in die Ohren gesteckt, wie er es immer tat. Und die oben konnten das Klingeln im Wohnzimmer nicht hören. Auch Ina nicht, die lange wach gelegen hatte und dann endlich doch eingeschlafen war, als die Natur ihr Recht forderte.
Eine Stunde später klingelte das Telefon wieder und diesmal schellte es mehrmals zehnmal. Wieder hörte es niemand, aber irgendwie schien Ina doch davon wach geworden zu sein. Doch da klingelte es nicht mehr. Sie schreckte aus ihrem Schlaf, richtete sich auf und die Wirklichkeit war wieder da.
Nein, dachte sie, es ist kein Traum gewesen. Ich habe diese Nachricht wirklich bekommen. Ich habe tatsächlich mit Genf telefoniert und das ganze Grauenhafte des Vorfalls berichtet bekommen. Ich träume es nicht, auch wenn ich es noch immer nicht fassen kann. Ich vermag es nicht zu glauben und doch ist wohl nicht daran zu zweifeln.
Sie hatte gestern nicht geweint und konnte es auch jetzt nicht. Ihr war, als würde ihr Körper von unten her absterben. Mit einem Mal hatte nichts mehr Sinn.
Eine Liebe wie zwischen Bernd und ihr, so sagte sie sich, werde es niemals mehr geben. Nicht für sie. Solche Dinge, dachte sie, wiederholen sich im Leben nicht. Ihre Beziehung zu Bernd hatte niemals etwas Alltägliches gehabt. Leidenschaftliche Liebe wurde von Streitereien abgelöst, spontane verrückte Einfälle von beiden waren in die Tat umgesetzt worden. Mit Bernd war sie glücklich gewesen wie nie im Leben zuvor. Mit ihm hatte sie Dinge getan und schön gefunden, für die sie sich früher geschämt hätte. An seiner Seite war es ihr möglich gewesen, übermütig und ausgelassen zu sein. Und sie wusste, dass sie nichts von dem jemals vergessen konnte.
Und das alles sollte es nie mehr geben!
Sie lauschte in die Nacht hinein, meinte, ihr Blut in den Ohren rauschen zu hören, spürte, wie ihr Herz schlug und wie ihr die Kälte den Rücken heraufkroch.
„Warum weine ich nicht?“, fragte sie sich. „Ich müsste doch in meinem Schmerz zerfließen in Tränen. Stattdessen sitze ich da, starre in die Dunkelheit und komme mir vor wie tot. Und morgen Früh werde ich in die Klinik gehen, werde meine Arbeit machen wie immer und alle, die es inzwischen erfahren haben, starren mich an wie eine Heilige. Nein, ich werde nicht in die Klinik gehen. Ich werde mich in mein Bett verkriechen, wie ich es als Kind getan habe, wenn ich nicht mehr ein und aus wusste vor Angst.
Gött hat keinen Arzt. Ich muss gehen. Es sind so viele schon weg. Ich muss meinen Dienst machen, ich kann ihn nicht im Stich lassen. Ich kann meine Patienten nicht verraten. Sie brauchen mich.“
Sie legte sich wieder hin, schloss die Augen und ein harter Arbeitstag forderte sein Recht; sie schlief ein.
Unten begann wieder das Telefon zu schellen...
5
Die Nacht über war es wärmer geworden. Am Morgen goss es in Strömen. Ein milder Wind blies von Süden. Die Wolken hingen tief über Hamburg. Der Hafen Zu Füßen des Hafenkrankenhauses zeigte sich grau in grau.
Marita und Harald Preiß hatten bereits zwei Einsätze hinter sich. Jetzt saßen sie unten im Bereitschaftszimmer neben dem berüchtigten roten Telefon und tranken heiße Fleischbrühe. Harald Preiß hatte ein Brötchen in der Mitte zerbrochen und reichte Marita die eine Hälfte. Aber sie schüttelte abwehrend den Kopf.
„Danke, ich mag nicht.“
Er grinste und stippte die Brötchenhälfte in die Bouillon, biss ab und meinte kauend:
„Macht nichts, Mutters Sohn kann eine Menge schlucken. Hat es Ihnen gefallen gestern Abend?“
Sie nickte lächelnd. „Sie waren nett, Harald, und Sie haben Ihr Wort gehalten.“
„Was ich verspreche, halte ich immer“, behauptete er. „Wir haben um vier Schluss, wollen wir noch etwas gemeinsam machen? Wir könnten ins Hallenbad gehen oder schwimmen Sie nicht gern?“ .
„Doch“, entgegnete sie, „leidenschaftlich. Ich habe bloß nie Zeit und abends ist das Hallenbad immer zu.“
„Jetzt haben wir Zeit; die machen erst gegen sieben zu, das reicht doch für uns. Und anschließend gehen wir etwas essen und...“
„Das ist viel zu teuer. Ich wüsste etwas Besseres.“
„Und das wäre?“, fragte er. „Geld nehmen sie überall.“
„Sie könnten bei mir Abendbrot essen. Aber in allen Ehren, bitte ich Sie.“
„Bin ich ein Unhold?“, fragte er lächelnd. „So sehe ich doch nicht aus, oder?“
„Dann kaufen wir nachher noch etwas ein, wenn wir aus der Badeanstalt kommen und danach haben wir auch Hunger genug.“
„Prima Idee. Allmählich habe ich den Eindruck, Sie lassen Ihre Hemmungen doch etwas fallen.“
„Ich habe keine Hemmungen“, entgegnete sie. „Und