Jetzt meldete sich eine der Damen zu Wort, die zu der Gästegesellschaft gehörten. "Du solltest aber auf keinen Fall auf den Gedanken kommen, dich gegen mich zu stellen!"
"Ich kann mit dir jederzeit mit Leichtigkeit dasselbe tun, wie mit Patricia!", kam es jetzt wieder über Mary eigene Lippen. Aber auch all das, was zuvor gesagt worden war, war ihrer Seele entsprungen. Fast zwei Dutzend Augenpaare starrten Tom an.
"Du hast schon einmal davor zurückgeschreckt!", erinnerte Tom sie.
"Du sprichst von gestern Nacht."
"Ja."
"Verlass dich nicht darauf, dass das immer so sein muss!" Ihr Gesicht bekam einen säuerlichen Ausdruck. "Liebe verwandelt sich mitunter auch in Hass, Tom! Daran solltest du immer denken!"
Eine Drohung!, durchfuhr es Tom. Es war eine unverhohlene Drohung. Er war ein Gefangener und es schien keinen Ausweg zu geben. Und keine Macht, die es mit der ihren hätte aufnehmen können.
"Was ist mit Willard?", fragte Tom dann plötzlich. "Ist er auch nur ein Produkt deines Geistes? Hast du ihn ebenso unter Kontrolle wie alles andere?"
"Natürlich", flüsterte sie.
"Dann zeig es mir!", forderte Tom. "Ruf ihn her! Zeig mir, dass du ihn so unter Kontrolle hast, wie alles andere! Ich glaube dir nämlich nicht!"
Für einen Augenblick begann sich Marys Gesicht wieder zu verformen. Es verzog sich zu einer grimmigen, wütenden Maske. Ein fauchender Laut ging von ihr aus.
Gleichzeitig schien sich Dostan Radvanyis Gesicht für einen Moment zu verwandeln.
Für Sekunden nur zeigte sein Kopf das Antlitz von Willard Delancie, so wie Tom es bei dem Reiter gesehen hatte. Doch das währte nicht länger als einen Augenaufschlag, dann war der alte Zustand wieder hergestellt. Ein Schrei der Wut ging über Marys Lippen.
Tom machte ein paar schnelle Schritte und war bei der Tür. Er riss sie auf, stieß den Butler zur Seite, der dahinter zum Vorschein kam und rannte den langen Flur entlang. Dann hatte er die Eingangshalle erreicht.
Er blickte sich kurz um, riss die Tür auf und trat hinaus auf die Stufen des Portals. Der Nebel schien noch dichter geworden zu sein.
Die Kälte war unmenschlich.
Er lief die Stufen hinab.
Ich habe es mir gedacht, schoss es ihm durch den Kopf. Sie kann Willard nicht kontrollieren!
Woran auch immer das liegen mochte. Ihr Geist steckte in dieser seltsamen Zwischenwelt hinter allem. Hinter fast allem. Sie schien nicht allein hier zu sein.
Ich muss Willard finden!, dachte Tom. Vielleicht konnte er ihm helfen.
Er lief in den Nebel hinein.
Niemand folgte ihm.
Dann erreichte er den Teich.
Das dunkle, spiegelglatte Wasser hob sich plötzlich. Es wölbte sich in einer wie zähflüssig wirkenden Beule empor. Ein schwarze Gestalt mit leuchtenden Augen watete durch das schwarze Wasser auf das Ufer zu.
Tom erschrak bis in die Knochen...
Dies war zweifellos jenes Monstrum, dem er bereits in der vergangenen Nacht begegnet war.
Mit einem schmatzenden Geräusch kam es an Land. Dann verharrte es. Tom sah die grell leuchtenden Augen in der Mitte des Kopfes. In diesen Augen war dasselbe grelle Leuchten zu finden, wie wenige Augenblicke zuvor in denen von Lady Mary.
Das Monstrum wartete.
Tom blieb stehen.
Hinter sich vernahm er jetzt Schritte auf den steinernen Stufen des Portals.
Er blickte sich halb um. Aus den Augenwinkeln heraus sah er drei menschliche, sehr bleich wirkende Gestalten die Stufen hinuntergehen. Es waren Lady Mary, ihr Butler und Dostan Radvanyi, der Pianist.
"Habe ich es dir nicht gesagt, Tom?" Ihre Stimme war wie ein eisiger Hauch.
Tom sah ihr entgegen, als sie sich ihm näherte.
"Es hat keinen Sinn", sagte sie.
"Das werden wir sehen!", erwiderte Tom düster. Und dann registrierte er, wie sie plötzlich zusammenzuckte. Ihr Blick war in den grauen Nebel gerichtet. Kaum etwas war darin noch von der Umgebung zu erkennen. Nur dunkle, schattenhafte Umrisse.
Und einer dieser Umrisse bewegte sich.
Ein Reiter.
Leise war aus der Ferne zu hören, wie die Hufen auf den Boden stampften. Das Pferd schnaubte.
"Willard!", rief Tom.
Aber er bekam keine Antwort.
Einen Augenaufschlag später war der Schatten des Reiters verschwunden.
Aber Lady Marys Augen waren noch immer schreckgeweitet.
"Wovor hast du Angst, Mary?", fragte Tom.
*
ICH HATTE KEINE AHNUNG, wie viel Zeit vergangen war oder wo ich mich befand. Die erste Empfindung, die ich hatte, war wieder diese unmenschliche Kälte.
Ich zitterte und öffnete vorsichtig die Augen. Ich lag auf einem feuchtkalten Untergrund. Als ich die Hände zusammenkrallte, fühlte ich Erde. Modrig riechender, schwerer Boden. Um mich herum war es neblig. Dicke Schwaden krochen über den Boden. Man konnte nicht weiter als zehn oder zwanzig Meter sehen.
Ich hob die Hände, beinahe ungläubig darüber, noch am Leben zu sein. Dann betastete ich vorsichtig das Gesicht, strich mir einige Strähnen aus den Augen.
In der Ferne hörte ich ein Geräusch, dass mich sofort aufschrecken ließ.
Pferdehufe, die auf dem schweren Boden herumtrampelten. Es klang wie ein dumpfes Klopfen in einem ganz charakteristischen Rhythmus.
Innerhalb einer Sekunde war ich auf den Beinen. Im ersten Moment war ich etwas benommen. Schwindelgefühl machte mir noch ein wenig zu schaffen. Aber innerhalb des nächsten Augenblicks war es wie weggeblasen.
Ich drehte mich nach allen Seiten herum.
Nur Nebel und eigenartige, schattenhafte Konturen von Dingen, die sich nur erahnen ließen. Bäume vielleicht?
Hecken, Sträucher?
Jedenfalls sah ich nirgends etwas, das auf Delancie Castle hinwies.
Kein Licht, kein Umriss... Gar nichts.
Andererseits konnte man bei dem Nebel ohnehin nicht viel sehen. Vielleicht täuschte mich der optische Eindruck und das Schloss war in Wahrheit ganz in der Nähe...
Wo bin ich?, dachte ich. War dies das Jenseits? Die Sphäre der toten Seelen? Oder handelte es sich nur um ein anders Zwischenreich, so wie das der Lady Mary Delancie? Ich hatte keine Zweifel daran, dass sie dafür verantwortlich war, dass ich mich an diesem unwirtlichen Ort befand. Ich erinnerte mich an die gewaltige mentale Krafteinwirkung, mit der sie mich angegriffen hatte.
Nichts hatte ich ihr entgegenzusetzen gehabt. Aber immerhin war ich noch am Leben.
Wirklich?
Ich mochte nicht weiter darüber nachdenken.
Ich dachte an Tom und daran, dass ich möglicherweise nun für immer von ihm getrennt war, sofern es Lady Mary geschafft hatte, mich aus ihrer Zwischenwelt hinauszuschleudern. Für einen Moment hatte ich wieder den geradezu chaotischen Mahlstrom vor Augen, in dessen Sog ich geraten war. Ein Strudel, dem meine Seele nicht hatte widerstehen können. Und nun war ich hier...
Ich hatte mich lange genug mit außersinnlichen Phänomenen beschäftigt, um mich über solche Erlebnisse nicht mehr allzu sehr zu wundern. Ich nahm es einfach