Für einen Moment verlor sie sich in diesen Empfindungen, verlor sich in dem Gefühl der tiefen Liebe, die sie empfand. Bis langsam aber sicher wieder die düstere Erkenntnis in ihr aufstieg, dass das alles nichts weiter als eine Illusion war. Eine Vorspiegelung ihres Geistes. Sie war allein, so schrecklich allein...
Oh, Tom...
Einsamkeit.
Ein schreckliches Gefühl, das sie in einer großen dunklen Woge zu überschwemmen und mit sich zu reißen drohte. Sie fröstelte.
Auf der bleichen, zarten Haut ihrer Unterarme fror sie jetzt.
Sie öffnete die Augen, blickte ihr eigenes Spiegelbild in dem düsteren, modrigen Teich an und sah dann zu den uralten Mauern des Schlosses hinüber.
Delancie Castle, der uralten Stammsitz ihrer Familie, die einst als normannische Grafen mit Wilhelm dem Eroberer auf die britischen Inseln gekommen waren.
Ein verfluchtes Gemäuer, dachte sie. Ein verfluchter Ort... Mehr und mehr zog sich nun die dunkle Wolkendecke über den Himmel. Der Mond verschwand jetzt phasenweise dahinter. Ein kühler Wind kam auf und strich eisig über das Land. Die glatte Wasseroberfläche auf dem Teich kräuselte sich leicht und das Spiegelbild wurde zerstört.
Modergeruch trug der Wind an ihre Nase.
Der Geruch des Alters und des Verfalls.
Des Todes!, dachte sie schaudernd.
Und das Grauen legte sich wie eine eiserne Hand um ihr Herz. Eine Hand, die unerbittlich und fest zudrückte. Das Atmen fiel ihr schwer.
Irgendwo in der Ferne leuchtete etwas grell in den dunklen Wolkengebirgen auf.
Ein Blitz.
Es schien, als ob sich nun ein Gewitter ankündigte. Das dumpfe Grollen des Donners bestätigte diese Vermutung. Und während sie die ersten Regentropfen auf der totenbleichen Haut spürte, sah sie andere Bilder vor ihrem inneren Auge. Es waren ebenfalls Erinnerungen.
Keine Szenen des Glücks und der Liebe.
Nein, Augenblicke des blanken Schreckens...
Eine dunkle Kapuze hatte man ihr über den Kopf gezogen. Hände hatten sie wie in einem Schraubstock gepackt. Sie war gefesselt.
Sie glaubte, noch einmal zu spüren, wie der Henker ihr den groben Strick um den Hals legte, hörte die Worte des Reverends, die ihre verdammte Seele ins Jenseits begleiten sollten und das schreckliche, harte Geräusch, als der Galgen betätigt wurde.
Wie eine Puppe hing sie im Wind, schwang hin und her...
"Nein!", schrie Mary in die Nacht hinein. Sie fuhr sich mit den Händen über das blasse Gesicht, so als hätte sie sich davon überzeugen müssen, dass sie noch existierte. Sie raufte sich das schulterlange, blonde Haar, während ihre Augen weit aufgerissen waren. Eine Mischung aus Wahnsinn und Schrecken leuchtete aus ihnen.
"Nein!", schrie sie und versuchte verzweifelt , die grausamen Bilder aus ihrer Erinnerung abzuschütteln. Sie schluckte, berührte tastend ihren Hals.
Mein Gott...
Sie glaubte, den Abdruck des groben Hanfseils auf ihrer Haut zu spüren.
Der Puls schlug ihr bis zum Hals.
Sie fühlte, dass sie am Abgrund stand. An einem Abgrund des Wahns, der wie ein großer finsterer Schlund vor ihr gähnte. Der Regen wurde stärker.
Dicke Tropfen benetzten ihre weiße Haut und die Haare. Sie umrundete den Teich, raffte ihr langes Kleid zusammen und lief auf die grauen Mauern von Delancie Castle zu. Aber sie lief nicht auf das eindrucksvolle Portal des Schlosses zu, sondern hielt mitten in ihrem Weg an, und wandte sich dann nach links.
Sie zitterte.
Etwas bewegte sich dort, zwischen den Büschen. Etwas Dunkles, das nur als bloßer Schemen zu sehen war. Sie hörte Schritte. Vielleicht ein Tier...
"Lady Mary!", rief dann eine heisere Stimme durch die Nacht. Sie kam vom Portal her.
Ein grauhaariger Butler stieg die steinernen Stufen hinab, auf denen sich das Moos bereits heimisch zu fühlen begann. Der Butler trug einen Schirm in der Linken.
"Lady Mary, kommen Sie! Sie werden sich den Tod holen!“
Inzwischen prasselte der Regen nur so herab.
Aber Mary schien das nicht zu kümmern.
Wie entrückt stand sie da, fast wie zur Salzsäule erstarrt.
Und ihre bleichen Lippen murmelten immer wieder einen Namen.
"Tom!"
*
ICH ERWACHTE SCHWEIßNASS mitten in der Nacht. Wirre Träume hatten mich in meinen Kissen hin und her wälzen lassen. Ich hatte einfach keine Ruhe gefunden, so sehr ich es auch versucht hatte.
Und als ich dann schließlich doch eingeschlafen war, hatten sich vor meinem inneren Auge Szenen entfaltet, die mir den kalten Angstschweiß auf die Stirn trieben. Bilder von unglaublicher Intensität, die mir mindestens so real erschienen, wie der Mond, der wie ein großes Oval am Himmel stand. Von meinem Bett aus konnte ich ihn durch das Fenster scheinen sehen.
Er wirkte wie das große, kalte Auge eines Riesen, der mich aus großer Ferne musterte.
Der Puls schlug mir bis zum Hals.
Das Nachthemd klebte an meinen Schultern. Schwer atmend schlug ich die Bettdecke zur Seite. Langsam begriff ich, dass das, was ich gesehen hatte, nichts weiter als ein Traum gewesen war.
Ich trat zum Fenster, öffnete es und einen Augenblick später wehte der kühle Hauch der Nacht von draußen herein. Das brachte mich wieder etwas zur Besinnung.
Ein Gesicht erschien vor meinem inneren Auge. Jenes Gesicht, das ich in meinem Traum immer wieder vor mir gesehen hatte.
Ich konnte nicht genau sagen, was mich an diesem Gesicht so sehr geängstigt hatte. Dieses Gefühl namenloser Furcht war einfach da. Und war mit diesem Gesicht verbunden. Es handelte sich um das totenbleiche Antlitz einer Frau. Ihre Züge waren feingeschnitten und wirkten wie aus Elfenbein modelliert. Eine hübsche Frau, ohne Zweifel. Aber so...
...tot!
Mir schauderte bei dem Gedanken an sie.
Wie eine kalte, glitschige Hand kroch dieses Gefühl meinen Rücken empor. Gänsehaut überzog meine Unterarme. Hast du dieses Gesicht schon einmal gesehen?, ging es mir durch den Kopf. Ich zermarterte mir förmlich das Hirn über diese Frage. Nein, dachte ich. Aber ich war mir nicht hundertprozentig sicher.
Dieses blasse Gesicht war die einzige Erinnerung, die mir aus meinem Alptraum geblieben war. Alles andere war nicht mehr als ein Konglomerat aus düsteren Farben, leckenden Schatten, Mondlicht und einem finsteren Gemäuer. Ein Detail war da allerdings noch...
Der Strick!
Wie eine Galgenschlinge hatte er um ihren Hals gelegen. Warum hat dich dieser Traum so aufgewühlt?, fragte ich mich. Ich sah keinen wirklichen Grund dafür. Und doch schlug mein Herz wie wild. Selbst jetzt, da der kühle Hauch dieser winddurchtosten Nacht eigentlich alle Traumgespenster hätte verscheuchen müssen.
Ich brauchte nur die Augen zu schließen.
Dann stand es wieder vor mir, dieses bleiche Gesicht einer elfenbeinhäutigen Frau, die mir wie ein Bote des Todes erschien.
Schon im ersten Moment, nachdem ich erwacht war, hatte ich gewusst, dass es sich um einen jener Träume handelte, die meine leichte übersinnliche Gabe mir sandte. Eine Gabe, mit deren Hilfe ich schlaglichtartig in Träumen, Tagträumen und Ahnungen die Abgründe von Raum und Zeit überwinden konnte.