Tom erwiderte nichts.
Wir folgten dem Butler durch einen langen Flur. Dann ging es eine steile Treppe hinauf, deren einzelne Stufen unter unserem Gewicht knarrten. Tom wandte sich an den Butler und fragte ihn: "Woher wusste Lady Mary, dass wir hier auftauchen würden?"
Der Butler hielt auf einem Absatz an. Er drehte sich halb herum. "Sie wusste es einfach, Sir."
"Verfügt sie vielleicht über so etwas wie eine übersinnliche Begabung?", fragte ich.
"Ich bin nicht befugt, über meine Herrschaft zu sprechen", erwiderte der Butler dann im Tonfall klirrender Kälte. "Das sind alles Fragen, die Sie Lady Mary selbst stellen sollten. Aber ich bin gewiss, dass sich dafür noch ausreichend Gelegenheit ergeben wird."
Der Flur, den wir jetzt betraten, war sehr hoch. Er wirkte herrschaftlich.
Der Butler entzündete einige Lampen, die alles in ein weiches Licht tauchten. Dann hatten wir eine große, schwere Tür erreicht, deren Holz mit absonderlichen Schnitzereien versehen war. Eigenartige Fabelwesen rankten sich empor. Ihre Gesichter waren derart überzeugend aus dem Holz herausgearbeitet worden, dass man befürchten konnte, sie würden jeden Augenblick zum Leben erwachen. Dämonenhafte, fratzenartige Gesichter, die uns auf eine Weise anzustarren schienen, die mir nicht gefiel.
"Hier ist ihr Quartier, Lord Millroy", sagte der Butler. Er schloss die Tür auf.
Wir betraten den Raum.
Es war ein sehr weitläufiges, herrschaftlich eingerichtetes Gästezimmer.
Das breite Himmelbett war mit denselben Fabelwesen verziert wie die Tür. Die Möbel waren zierlich und wirkten sehr zerbrechlich und kostbar. Überdimensionale Ölgemälde hingen an den Wänden. Düstere Landschaftsbilder, die Motive aus der Umgebung zeigten.
Es war auch ein Bild darunter, das Delancie Castle zeigte, jenes graue, unheimliche Gemäuer, dessen Gefangene wir nun zu sein schienen - auch wenn das so deutlich niemand sagte. Der Butler deutete auf eine kunstvoll geflochtene Kordel über dem Nachttisch.
"Wenn Sie etwas wünschen, Sir, dann läuten Sie doch bitte nach mir!"
"In Ordnung", sagte Tom.
Dann wandte sich der Butler an mich.
"Für Sie habe ich ein anderes Quartier."
"Aber..."
"Kommen Sie. Es liegt nebenan."
"Ich werde dich begleiten", sagte Tom. Der Butler wandte ihm einen strengen Blick zu. "Wenn Sie finden, dass sich das schickt, Lord Millroy!"
"Das finde ich durchaus!", erwiderte Tom eisig. So traten wir hinaus auf den Flur. Ich fühlte nach Toms Hand. Sie fühlte sich kalt an - so wie alles in dieser furchtbaren Alptraumwelt kalt zu sein schien. Die Wände dieses grauen Gemäuers strahlten eine klamme Kälte ab, wie man sie ansonsten in einer unterirdischen Gruft vermuten würde. Draußen schien der nasskalte englische Winter zu herrschen und ich spürte, dass diese unheimliche Kälte nach und nach auch von meinem Inneren Besitz zu ergreifen begann. Der Butler brachte uns zu jenem Zimmer, das als mein Quartier vorgesehen war. Es unterschied sich von dem, welches man für Tom vorbereitet hatte, nur in unwesentlichen Details. Ich rieb die Hände gegeneinander.
Der Gedanke, hier die Nacht verbringen zu müssen, sorgte dafür, dass sich meine kleinen Nackenhärchen aufrichteten. Aber ich registrierte auch, dass in der Tür von innen ein Schlüssel steckte.
"Die Kleider in den Schränken können Sie in Anbetracht ihrer etwas unzureichenden Bekleidung gerne benutzen, Miss Vanhelsing", erklärte der Butler. "Das gilt übrigens auch für Sie, Lord Millroy."
"Mein Name ist Hamilton", erwiderte Tom.
"Welchen Namen Sie auch immer zu tragen vorgeben - hier auf Delancie Castle sind Sie niemand anderes als Lord Millroy. Jeder kennt Sie hier unter diesem Namen..." Ich deutete auf den Kamin.
"Können Sie für etwas Wärme sorgen?", fragte ich den Butler.
"Sehr wohl. Wie Sie wünschen. Ich werde frische Holzscheite heranschaffen. Auch für Ihr Zimmer, Lord Millroy." Der Butler verschwand durch die halbgeöffnete Tür, die jetzt mit einem knarrenden Geräusch ins Schloss fiel. Ich fasste Tom bei den Schultern.
Er nahm mich in den Arm, und ich schmiegte den Kopf an seine breite Brust.
"Tom, was geschieht hier?"
"Ich weiß es nicht..."
"Aber du warst einst jener Lord Millroy, mit dessen Namen dich hier jeder anredet?"
"Ja", sagte Tom. Er seufzte. "Es ist gut hundertfünfzig Jahre her, seit ich dieses Schloss zum ersten Mal betrat... Das Schloss der Familie Delancie. Damals ein Landsitz, heute muss das Gebiet längst ein Teil von London sein..."
"Du meinst, wir haben eine Art Zeitreise unternommen?", fragte ich.
"Es hat fast den Anschein... Andererseits..."
"Was?"
"Es gibt kleine Details, die nicht stimmen." Tom ging zur Tür, berührte mit den Fingern leicht die Schnitzereien. Die grimmigen Gesichter dieser zweifellos ziemlich unfreundlichen Fabelwesen passten tatsächlich nicht in den Stil dieses Schlosses. "Diese Schnitzereien zum Beispiel..." Ich sah Tom fragend an.
"Wo sind wir? In einer Art Schattenwelt? Im Reich der Toten?"
"Ich habe keine Ahnung."
"Ich habe eine starke übersinnliche Präsenz gespürt", murmelte ich. "Lady Mary scheint über besondere Kräfte zu verfügen... Tom, alles, was hier geschieht, wirkt so irreal. Die Gäste, die auf diesem Schloss weilen, sehen aus wie lebende Tote..."
"Nicht zu vergessen, dass die Jahreszeit abrupt gewechselt hat, als wir hier her kamen." Er sah mich an, fasste meine Schultern und der Blick seiner grüngrauen Augen tat mir gut. Er war so warm und voller Liebe. "Ganz gleich, wo wir auch sind, ob in einer anderen Dimension, der Vergangenheit oder einem Alptraum - wir gehören zusammen. Ich möchte, dass du das weißt."
"Du hast diese Lady Mary geliebt", stellte ich fest.
"In einem anderen Leben. Ich war ein anderer Mensch damals - und auch sie hatte nichts mit jenem Geschöpf gemein, das jetzt aus ihr geworden zu sein scheint."
"Sie scheint anders zu empfinden, Tom."
"Mag sein. Ich kann es nicht ändern. Aber für mich ist sie nur eine Erinnerung..."
"Tom, was ist damals geschehen? Erzähl mir die ganze Geschichte!"
"Das werde ich."
"Lady Mary war die Frau aus meiner Vision!", sagte ich. "Ich sah sie zuerst im Traum und später im Regen, vor dem Verlagsgebäude der LONDON EXPRESS NEWS. Der Regen schien ihr Haar nicht benetzen zu können. Es war seltsam... Sie stand da, als ob sie auf jemanden wartete. Ich habe mich gefragt, was sie von mir wolle. Jetzt weiß ich, dass sie deinetwegen dort gewesen sein muss..."
Tom hob die Augenbrauen.
Dann nickte er.
"Ja, das ist gut möglich..."
"In meinem Traum sah ich sie mit einem Strick um den Hals! Dem Strick des Henkers!"
Tom atmete tief durch.
"Sie wurde hingerichtet, Patti."
"Weshalb?"
"Weil sie einen Menschen getötet hat. Aber das alles geschah, nachdem ich selbst bereits verstorben war..."
"Du sprichst in Rätseln!"
Schritte waren jetzt zu hören.
Tom verstummte.
Der Butler kehrte zurück. Er schaffte Holzscheite heran, schichtete sie im Kamin auf und schaffte es nach ein paar Minuten schließlich, das Feuer zu entzünden. Das Holz knackte. Er wandte sich an Tom.