WIR GINGEN SCHWEIGEND dem Licht entgegen, das größer wurde und sich in mehrere Lichtpunkt aufteilte. Es handelte sich tatsächlich um ein Haus, wie wir bald feststellten. Die Fenster waren erleuchtet.
Es war ein verwinkeltes Gebäude, das mich unwillkürlich an ein Schloss erinnerte. Erst, als wir uns noch weiter genähert hatten, wurde erkennbar, wie groß es war. Turmartige Erker reckten sich spitz in den Nachthimmel. Das Gemäuer war grau und rissig. Moos schimmerte graugrün im Licht des Mondes. Es wucherte die Wände empor und hatte sich in den Rissen eingenistet.
Vor dem düsteren Schloss befand sich ein Teich mit dunklem, spiegelglatten Wasser. Das Schloss spiegelte sich darin. Schnee rieselte hinein. Die Flocken schwammen auf der Oberfläche.
Tom blieb plötzlich stehen.
Er schien nicht mehr auf die Kälte zu achten. Ich sah sein Gesicht, sah, wie sich plötzlich Anspannung und Verwirrung darin zeigten.
"Was ist los, Tom?"
"Dieser Ort..."
"Was ist damit?"
Er sah mich sehr ernst an.
"Ich habe das Gefühl, schon einmal hiergewesen zu sein. Vor langer Zeit..."
"In einem anderen Leben?"
"Ja, ich denke schon. Aber..." Er schüttelte den Kopf.
"Vielleicht täusche ich mich, aber dieses Gebäude sieht aus wie Delancie Castle..."
Die Art und Weise, wie er diesen Namen aussprach gefiel mir nicht.
"Warum soll das nicht möglich sein?", fragte ich und presste die blaugefrorenen Lippen aufeinander.
"Weil es Delancie Castle nicht mehr gibt. Es fiel einer Bombardierung im zweiten Weltkrieg zum Opfer und wurde danach nicht wieder aufgebaut..."
Wir umrundeten den Teich.
An was für einen bizarren Ort waren wir nur gelangt? Ein Ort, über dem die Aura unvorstellbaren Alters wie Glocke aus grauem Dunst hing.
Wir schritten die breiten Steinstufen des Portals empor. Der Treppenaufgang wirkte hochherrschaftlich. Die steinernen Handläufe endeten in grimmig dreinschauenden Löwenköpfen. An der zweiflügeligen dunklen Holztür prangte ebenfalls ein Löwe, der allerdings vergoldet war. Ein schwerer Metallring hing ihm in der Nase. Mit ihm konnte man gegen das Holz klopfen.
Tom griff nach dem Ring.
Die Schläge hallten dumpf im Inneren des Schlosses wieder. Es dauerte einen Augenblick, bis endlich Schritte zu hören waren.
Schleppende Schritte, so als ob jemand ein Bein etwas nachzog.
Die Tür wurde geöffnet.
Sie war nicht verriegelt.
Ein großgewachsener Butler mit hagerem Gesicht und bewegungsloser, starrer Miene trat uns entgegen. Sein Gesichtsausdruck war regungslos. Seine Haut wirkte pergamentartig und bleich. Das Haar leichengrau. Er zog eine seiner dünnen, kaum sichtbaren Augenbrauen in die Höhe.
Der Blick seiner wässrig-blauen Augen war gleichermaßen durchdringend und prüfend.
Ein Blick, so kalt wie das Wetter in dieser unheimlichen Nacht.
"Guten Abend, Sir", sagte der Butler mit heiserer Stimme.
"Sie werden bereits erwartet.."
"Erwartet?", echote Tom.
"Willkommen auf Delancie Castle", sagte der Butler. Seine Stimme schien dabei wie Eis zu klirren. Tom rieb die Hände gegeneinander. "Es ist ziemlich kalt draußen..."
"Ja, der Winter wird sicher hart."
"Winter?", echote ich.
"Folgen Sie mir bitte in den Salon. Wie mögen Sie den Tee?"
Sowohl Tom, als auch ich waren im ersten Moment viel zu verwirrt, um darauf eine Antwort geben zu können.
"Wir sind jedenfalls froh, nicht mehr da draußen zu sein", meinte ich.
"Ja, das verstehe ich gut", erwiderte der Butler düster.
"Eine schauderhafte Nacht..."
Wir folgten dem Butler durch die große, hohe Empfangshalle. Dann ging es einen breiten Treppenaufgang hinauf. Die Wände waren mit Portraits behängt. Großformatige Bilder, die in verschiedenen Techniken und Stilen angefertigt worden waren. Bleiche, traurig aussehende Gesichter blickten uns von diesen Gemälden an.
"Die Ahnengalerie der Delancies", murmelte Tom. "Mein Gott, es ist wirklich wahr... Ich bin wieder hier..."
"Erklär es mir, Tom!"
"Nein, nicht jetzt, Patti. Später..." Die Parkettbohlen knarrte unter unseren Schritten, so als würde dieses Gebäude förmlich aufstöhnen.
Der Butler führte uns in einen hell erleuchteten Salon. Es gab kein elektrisches Licht, nur Kerzen, Kronleuchter und ähnliches. Mir fiel das erst auf den zweiten Blick auf. Eine Gesellschaft gut gekleideter Damen und Herren starrte uns an.
Die Herren trugen Anzüge mit langen Schößen, wie man sie um die Mitte des 19. Jahrhunderts getragen hatte. Die Kragen waren hochgestellt und als Krawatten dienten breite Schleifen. Manche dieser Gentlemen trugen die Koteletten bis zur Kinnbeuge.
Die Damen trugen lange Kleider, die beinahe den Boden berührten. Die Haare waren zu kunstvollen Frisuren aufgesteckt. Juwelen glänzten an ihren Hälsen und den zierlichen Händen, mit denen sie ihre langstieligen Gläser hielten.
Schwarzgekleidete Diener liefen mit übervollen Tabletts herum und sorgten dafür, dass jedermann zu trinken bekam. Der Geruch von Zigarrenqualm erfüllte den Raum.
Und dann sah ich sie.
Jene Frau, die mir im Traum begegnet war. Und vor dem Verlagsgebäude der LONDON EXPRESS NEWS. Dieses geheimnisvolle, blasse Phantom, dessen Haar der Regen nicht zu benetzen vermocht hatte.
Das blonde Haar fiel ihr bis zu den Schultern herab. Ein mattes Lächeln erschien auf ihrem farblosen, aber wie aus Elfenbein gearbeiteten Gesicht. Es war eine kalte Schönheit, die sie ausstrahlte. Und die Art und Weise, wie sie lächelte, konnte einem das Blut in den Adern gefrieren lassen. Ich konnte die mentale Energie spüren, die an diesem Ort vorhanden war.
Eine sehr starke, sehr geballte übersinnliche Kraft mit einer Intensität, wie ich sie selten zuvor erlebt hatte. Sie ging auf uns zu und ihre Augen hingen wie hypnotisiert an Tom.
Nichts anderes schien die junge Frau wahrzunehmen. Das langstielige Sektglas, das sie zuvor mit abgespreiztem kleinen Finger in der Rechten gehalten hatte, stellte sie so ungeschickt auf eines der Tabletts, dass der betreffende Diener alle Mühe damit hatte zu verhindern, dass es zu Boden fiel.
Sie erreichte uns.
Von mir nahm diese bleiche Lady zunächst nicht die geringste Notiz.
Ein verklärtes Lächeln erschien auf ihrem hübschen Gesicht, während ihr Blick in den grüngrauen Augen von Tom Hamilton zu versinken schien. Auf eine Weise, die mir einen Stich ins Herz versetzte. Mit wachsendem Unbehagen beobachtete ich, was weiter geschah.
"Ich habe lange auf dich gewartet, Tom", flüsterte sie voller Inbrunst. "Aber ich habe nie den Glauben verloren. Den Glauben an unsere Liebe, Tom..."
"Lady Mary Delancie!", entfuhr es Tom. Offenbar kannte er diese Frau tatsächlich!
So wie ihm auch dieses unheimliche Schloss wohlbekannt zu sein schien. Schatten, die ihn aus einem anderen Leben verfolgten. Einem Leben, von dem ich nichts wusste...
"Warum so kühl, Tom? Oder bevorzugt Ihr jetzt die förmliche Anrede, Sir William Thomas Millroy?" Sie trat näher an ihn heran, so nahe, dass es mir nicht gefiel.
Ihre