Gordula tippte sich selbst an die Brust.
Christian verstand. Seine Augen weiteten sich erneut.
„Er hat doch nicht etwa dich vorgeschoben?“
„Natürlich hat er das. Immerhin macht das für Johann die Sache nicht mehr ganz so schlimm.“
„Er hat tatsächlich behauptet, sich anstatt mit Adele immer mit dir getroffen zu haben? Und weil die böse Margarethe sowieso nicht so glaubwürdig erscheint, nimmt Georg Wetken dies seinem Sohn sogar ab? Aber was ist dann mit dir? Damit hat er dich doch mit in die Angelegenheit hinein gezogen.“
„Ja, das hat er, aber sind wir beide denn nicht sowieso längst mit von der Partie, ob wir nun wollen oder nicht? Außerdem sehe ich ihn als meinen besten Freund. Freunde lässt man nicht im Stich. Zumal dies alles niemals passiert wäre, hättest du Trottel von einem Bruder nicht...“
„...hätte ich nicht Adele Brinkmann eingeladen. Schon verstanden!“, unterbrach Christian sie ärgerlich. „Ganz so blöd bin ich nun doch nicht, wie es scheint! Und wirklich, tut mir unendlich leid, Schwesterherz Lästerschmerz, aber ich war insofern vielleicht tatsächlich so etwas wie ein Depp, als ich das tat.
Diese Adele... Sie ist nun halt so etwas wie – äh - herzallerliebst. Anders kann man es nicht sagen. Da kann ich Johann völlig verstehen. Ich weiß ja nicht, ob du sie überhaupt näher kennst...?“
„Nicht so wie du offenbar. Also ehrlich, da tun sich für mich ja wahre Abgründe auf!“
„Jetzt lass doch bitte die Kirche im Dorf, liebste Lästerschwester. Immerhin bist du ausgerechnet mit Johann Wetken befreundet. Wieso also soll ich meinerseits da nicht Adele Brinkmann für besonders nett und adrett halten? Ich verkehre zwar nicht mit ihr wie du mit Johann, jedoch...“
„Wir verkehren nicht miteinander!“, wies das Gordula entrüstet zurück.
„Wie auch immer...“ Christian machte eine wegwerfende Handbewegung. „Jetzt ist es nun einmal passiert, aber wie soll es weitergehen?“
„Vorerst mal gar nicht. Ich habe dich nur deshalb darauf angesprochen, weil Johann und ich uns wunderten, wer wohl Adele eingeladen hat.“
„Ihr habt euch beide gewundert? Dann habt ihr euch doch nicht etwa schon wieder getroffen, trotz alledem?“
„Nein, nicht trotz alledem, sondern gerade wegen alledem!“, berichtigte Gordula ihren Bruder. „Nur zur Erinnerung: Ich bin sein Alibi! Und wir werden uns deshalb in naher Zukunft sicherlich noch mehr als einmal wiedersehen müssen.“
Christian schüttelte fassungslos den Kopf.
„Und diese Adele?“
„Die muss wohl noch warten.“
„Warten worauf?“
„Das weiß ich selbst noch nicht, aber ich denke da nicht so ganz zufällig an meinen werten Herrn Lieblingsbruder und die Tatsache, dass er doch diese Adele immerhin gut genug kennt, um sie zu einem verbotenen Fest einzuladen, von dem möglichst niemand sonst erfahren sollte.“
„Äh, ja, ich habe auch das inzwischen weitgehend verstanden, obwohl ich noch immer nicht sehen kann, wie ich dir da helfen könnte.“
„Nicht mir, Bruderherz, sondern Johann und Adele!“
„Nicht dein Ernst! Warum sollte ich das?“
„Noch einmal in der Wiederholung: Weil du sowieso längst involviert bist. Und noch einmal muss ich dich erinnern: Der wahre Übeltäter bist immerhin du selber! Durch dich ist diese verfahrene Situation immerhin erst entstanden.“
„Verfahrene Situation? Immerhin habe ich einer großen Liebe verholfen, zu erblühen!“, versuchte er jetzt, den Spieß einfach umzudrehen.
„Also, Christian, wenn das jetzt lustig sein soll, finde ich deinen Humor wirklich ziemlich verfehlt!“
„Entschuldige, du hast recht. Das ist alles andere als lustig. Ich weiß zwar immer noch nicht, was ich tun könnte, wenn Adele von ihrer Oma Hausarrest bekommen hat, aber ich werde dich unterstützen. Auf jeden Fall. Du weißt ja, dass du meine Lieblingsschwester bist, auch wenn du mir meist gewaltig auf die Nerven gehst. Aber wisse trotzdem:
Ich mache das nicht umsonst.“
„Aha?“
„Nun, ich helfe nur dann, wenn du es schaffst, mir meinen Fehler zu verzeihen!“
Gordula musste herzhaft lachen.
„Ach was, Bruderherz, das habe ich doch längst. Oder glaubst du, ich könnte meinem Lieblingsbruder länger böse sein als die üblichen fünf Minuten?“
Jetzt lachten beide.
Und dann wurden sie sehr schnell wieder sehr ernst, weil sie wieder an die Situation denken mussten, in der sich jetzt Adele und Johann befinden mussten.
11
Adele benötigte noch die ganze Nacht, in der sie erneut nur wenig Schlaf bekommen hatte, weil ihr die Angst vor der nahen Zukunft zu sehr zur Qual geworden war, um es zu schaffen, sich halbwegs zu beruhigen oder gar endlich einmal wieder einen halbwegs klaren Gedanken zu fassen.
Allerlei war ihr schon durch den hübschen Kopf gegangen. Es schien nicht den geringsten Ausweg zu geben für sie.
Ohne wissen zu können, was inzwischen außerhalb des Hauses vorgefallen war, wie es halt eben auch Johann ergangen war inzwischen, quälte sie vor allem deshalb die Angst vor der Zukunft, weil sie befürchten musste, tatsächlich Johann niemals wieder sehen zu dürfen.
Und dann dieser neue Gedanke, der zunächst einmal dermaßen ketzerisch erschien, dass sie vor sich selber erschrak. Denn sie dachte doch tatsächlich:
„Na und?“
Dabei meinte sie nicht etwa, dass sie der Hoffnung Ausdruck verleihen wollte, irgendwann vielleicht ihren Johann wieder vergessen zu können, sondern das war völlig anders gemeint, wie in diesem Moment nur sie selbst wusste:
„Das bezieht sich ausschließlich auf das Wort dürfen! Ja, na und? Ich darf nicht und ich werde auch niemals dürfen! Es ist mir für immer verboten, mich mit Johann zu treffen, ihm auch nur noch einmal in diesem Leben zu begegnen. Nichts und niemand kann mir dabei helfen. Das wird sich niemals ändern. Doch andererseits hingegen...“
Ihre Hände verkrampften sich vor ihrer bebenden Brust zu zitternden Fäusten, und dann brach es ihr über die Lippen. Ohne von ihr aufgehalten werden zu können. Es war ihr in diesem Moment sogar egal, ob es vielleicht einen heimlichen Zuhörer gab, der möglicherweise ihrer Oma Margarethe berichten konnte, was in ihr vorging in diesen Augenblicken:
„Es sei denn, mir ist das Verbot halt ganz einfach total egal!“
Es war in ihrer Lage in dieser Zeit dermaßen ketzerisch, dass es keine Steigerung mehr geben konnte. Sie, als hochwohlgeborenes Hansakind, natürlich wohlerzogen im Sinne dessen, was man alles von ihr erwartete, wollte sich tatsächlich über alles hinwegsetzen?
Einfach so?
Blieb natürlich