„Eben, Janet, aber nicht so. Noch einmal zum Mitschreiben: Wir sind keine Detektei! Wir sind ein Kollegium. Kapiert! Sonst bist du hier fehl am Platz“, bremste mich Markus.
Uschi fuhr dazwischen: „Markus, auch wenn es dir schwerfällt, aber du bestimmst nicht, wer hier fehl am Platz ist, das macht immer noch der Souverän.“
Danke, Uschi, dachte ich. Wenn nur deine Stimme nicht dauernd in diesen weinerlichen Ton kippen würde – man würde dich eher ernst nehmen.
„Janet - forsche, wo du willst, aber wir sind tabu. Hast du verstanden?“
Ich verdrehte die Augen.
„Wo waren wir? Der Brief ist uns bekannt. Was hast du dazu herausgefunden?“ Uschi sah mich auffordernd an.
Ich erklärte, Hans Furrer befürchte, Iris’ Ex-Mann Kevin sei ins Ausland verreist. Seit ihrem Verschwinden aus Berwil habe er nie mehr etwas von ihnen gehört. Alle seine Briefe seien mit dem Vermerk „Adresse unbekannt“ zurückgekommen. „Das Verhältnis zwischen Iris’ Eltern und dem Schwiegersohn war nie gut. Ich glaube, wenn eine Person, die einem nahesteht, stirbt, auch wenn es die Ex-Frau ist, kann man zu einer Kurzschlusshandlung neigen aus Trauer und Schmerz“, schloss ich.
„Ja, ich sehe Kevin geradezu vor mir, wie er weint, weil ihm die Geldquelle versiegt. Muss ein wahrer Schicksalsschlag für ihn gewesen sein“, frotzelte Markus.
„Mensch, wer weiß, was einen in so einem Moment bewegt“, sagte Robin. „Es ist nicht an uns, über ihn zu urteilen.“
„Amen“, beschloss ich seine Worte. Da der Fall schon länger pendent war, glaubte ich insgeheim nicht, dass er als besonders dringend galt. Uschi beauftragte mich, dranzubleiben. Sie hielt es für wahrscheinlich, dass sich Kevin bei Hans Furrer von selbst melden und sich das Ganze erledigen würde.
Es war inzwischen nach zweiundzwanzig Uhr. Markus gähnte ungeniert. Auch die anderen waren müde, Dora ließ ihre Mundwinkel hängen und sogar Robin vergaß, etwas einzuwenden. Kurz darauf wurde die Sitzung beendet.
Danach schlossen sich die folgenschweren Mojitos in der „Linde“ an, bei deren Genuss ich noch ein paar weitere Details über den Fall Furrer erfahren sollte – natürlich nicht ahnend, welche Wendung das Ganze noch nehmen würde. Fälle wie dieser erledigten sich eben nie von selbst, wie meine lieben Teamkollegen mir glauben machen wollten.
4.
Andrea hockte im Loch in der Dunkelheit. Selbst wenn sie sich die Hand vor die Augen hielt, konnte sie keine Veränderung feststellen, es war stockdunkel. Mara fehlte ihr. Kein Geräusch drang von draußen zu ihr. Zur Abwechslung hielt sie sich die Hände auf die Ohren, jetzt konnte sie ihr Blut rauschen hören. Dann lauschte sie ihrem eigenen Atem oder spürte nach, wie ihr Herz klopfte. Es roch nach Metall, abgestandener Luft und nach ihr. Die Zeit zog sich endlos dahin. Ihre Gelenke begannen von der gebückten Haltung und den angezogenen Beinen zu schmerzen.
Ach, wäre nur Mara hier! Sie hätte sie getröstet. Sie hätte mit ihr Lieder gesungen, ihr Geschichten erzählt. Mit Mara wäre es erträglicher.
Durch winzige Risse im Deckel drangen minimale Lichtstreifen. Sie wusste, dass sie nicht genug Kraft hatte, um ihn zu öffnen. Sie wusste es, weil sie es schon oft versucht hatte, bis zur Verzweiflung. Selbst Mara schaffte es nicht von unten, und sie war zwei Jahre älter und kräftiger.
Manchmal sagte Mara Sachen wie: „Tremonti gibt uns absichtlich wenig zu essen, damit wir klein und schwach bleiben.“
Doch Andrea war nicht sicher, ob das stimmte. Immerhin beklagte er sich darüber, dass das Essen für sie viel zu viel kostete. Darum sollten sie sich anstrengen, sich ihren Teil durch Arbeit auf dem Hof zu verdienen. Sie musste zum Beispiel den Futterkessel für die Hunde schleppen. Der war so schwer, dass sie ihn über den Boden schleifen musste und der Inhalt überschwappte. Zur Strafe bekam sie kein Abendessen. Wenn sie Strohballen zu den Tierställen bringen sollte, riss sie immer Stücke davon heraus, weil die Ballen zu groß und zu schwer für sie waren. Sie musste zehnmal hin und her laufen, bis genug davon drüben war. Tremonti tobte. Sie konnte es ihm nie recht machen. Sie war nicht sehr stark und ihre Hände waren zu klein, um viel halten zu können, und so fiel ihr oft etwas herunter. Tremonti wütete dann: „Ihr nichtsnutziges Gezücht. Wird es bald oder muss ich euch Beine machen? Los, das muss schneller gehen. Bewegt eure Knochengestelle oder ich verfüttere euch an die Hunde. Los – los!“
Ein anderes Mal hatte sie Holzscheite schleppen müssen. Obwohl sie todmüde war, zwang sie ihre Arme und Beine, weiterzuarbeiten. Sie hastete vor Tremonti her, stolperte prompt und fiel ihm mitsamt den Holzscheiten direkt vor die Füsse.
„Du ungeschickter Trampel. Pass doch auf!“ Er hob sie am Arm hoch und schüttelte sie. „Oder willst du Lobos Abendessen werden?“
Vor Schreck war ihr die Nässe an den Beinen heruntergelaufen.
„Ah, jetzt pisst die auch noch!“
Andrea heulte vor Angst.
„Reiz mich nicht!“, angewidert ließ Tremonti sie fallen.
Wann würde sie endlich kapieren, dass sie in solchen Situationen still bleiben musste? Er hatte ihr eine Ohrfeige gegeben, und als das nichts nützte noch eine und noch eine, bis sich Mara dazwischenwarf. Manchmal fragte Andrea sich, was bloß mit ihr los war, dass sie ihn immer wütend machte. Wäre sie doch nur so klug wie Mara.
Nun saß sie hier, konnte nicht stehen, nur hocken und hatte ihre Arme um die Knie geschlungen.
Vorletzte Nacht, als sie nicht hatte schlafen können, weil ihr Magen knurrte, hatte sie mit Mara Träume gesponnen, wie es sein würde, wenn Papa käme. Zusammen hatten sie die Geschenke aufgezählt, die er mitbringen würde. Andrea wünschte sich ein langes, glänzendes Kleid und eine Puppe. Mara wünschte sich für beide einen Geburtstagskuchen. Auf ihre Frage, was ein Geburtstagskuchen sei, hatte Mara erklärt: „Das ist ein Kuchen aus fein gebackenem Biskuit, mit rosaroter Verzierung und mit deinem Namen in Zuckerguss darauf geschrieben. Mmm, das ist lecker. Es stecken so viele Kerzen wie man Jahre alt wird darauf.“
Andrea war das Wasser im Mund zusammengelaufen.
„Leider weiß ich nicht, wie man einen Kuchen kocht – und stell dir vor, wie Tremonti schimpfen würde: ‚Eine Verschwendung! Was glaubt ihr, wer ihr seid. Fresst mir noch das letzte Haar vom Kopf‘“, hatte Mara ihn nachgeäfft. Darauf hatten sie sich gekugelt vor Lachen.
„Ich will nicht auch noch für seine Haare verantwortlich sein. Das waren schon so wenige, als wir hierherkamen. Aber ich würde gerne einen Geburtstagskuchen kochen für dich.“ Dabei hatte Mara mit ihren Armen einen großen Kreis gezeigt. „So gross würde er werden. So viel könntest nicht mal du alleine essen. Würdest du mir auch ein Stück geben?“
Andrea hatte genickt. „Aber Tremonti kriegt nichts!“
„Nein, und er darf nichts merken. Den Hunden und den Hühnern würde ich ein Stück geben. Mögen Schafe Kuchen?“
Mit der Vorstellung vom wundervollsten Kuchen auf der ganzen Welt war sie neben Mara eingeschlafen.
Da. Andrea spürte ein Krabbeln zwischen ihren Füssen. Waren das Ameisen oder war es vielleicht eine Maus? Freudig und ohne Furcht tastete sie vorsichtig danach. Sie spürte, wie sich eine neugierige Schnauze an ihren Fingern bewegte, offensichtlich wirklich eine Maus. Da, ein Quietschen, als sie sie fassen wollte.
„Komm, kleines Mäuschen.“ Andrea machte die quietschenden Geräusche nach, aber das Tier blieb verschwunden. Hatte es ein winziges Loch gefunden?
Mit piepsender Stimme flüsterte sie: „Wie heißt du, Maus? Hm? Los, sag schon.“
Keine Antwort.
„Na gut, dann sage ich, du heißt ab jetzt, ähm, Nelly, wie meine Grossmutter. Na, wie gefällt dir das? Oder bist du ein Männchen?“
Stille. „Hör mal.“ Ihr Magen knurrte. „Der ist leer.