»Ach, du bist es«, atmete Harry auf.
Die Lippen des Kommissars bewegten sich eifrig mit der unvermeidlichen Zigarette im Mundwinkel hängend, was den Eindruck vermittelte, er würde sie kauen statt rauchen. Fehlte nur noch, dass er sabbert, dachte Harry.
Mit rundum glattrasiertem Kopf zeigte er das gerötete Gesicht eines Kettenrauchers. In seinem fein geschnittenen Anzug, mit modischer Krawatte hätte man ihn leicht für einen Geschäftsmann halten können. Wäre da nicht seine laute, polternde Art gewesen, die nicht zu überhören war und niemals in die raunende Welt der Büromanager, in den Glaspalästen gepasst hätte. Im Gegenteil, die Leute um ihn herum bewegten sich in seiner Gegenwart auf Zehenspitzen, um ihn nicht unnötig zu reizen. Denn er hatte das Gemüt eines Schnellkochtopfs, dessen Überdruckventil kurz vor der Explosion stand.
Harry wurde gerade Zeuge eines solchen Ausbruchs.
»Beinahe hätten wir die Bande erwischt. Sie mussten alles liegen lassen und rennen!« Walos Stimme überschlug sich kurz vor Schadenfreude. Ungerührt verbreitete er mit seiner Zigarette beißenden Rauch im Büro.
»Ich wünsch dir auch einen guten Morgen Walo«, grüßte er ihn amüsiert.
Unbeeindruckt von Harrys verhaltenen Begeisterung fuhr er fort: »Die Schweine machten einen Fehlalarm. Ach, was sag ich da. Weißt du, der Einbruch beim Juwelier van Hohenstett. Ganz ausgekochte Typen waren das. Aber das nächste Mal fallen wir nicht darauf rein. Dann warten wir um die Ecke, bis sie mitten in der Falle sitzen und dann:« Er schlug mit der Faust in seine andere Hand, dass es knallte. »Zack – Zugriff! Wer zuletzt lacht, sag ich immer, lacht am besten!«
Wie ein Schnellzug in voller Fahrt war Kranz kaum zu bremsen. Ein typischer Kommissar wie man ihn sich vorstellt. Immer zur Stelle bei großen Einsätzen und schnell bereit, lautstark Schuldige suchend. Er hielt nichts von intellektuellem Gerede und die diplomatische Ausdrucksweise war seine Sache nicht. Aber wer ihn wegen der lauten Aussprache als einfältigen Schwätzer abtat, konnte seine Überraschung erleben. Wenn die Staatsanwälte ihre Paragrafen herunterleierten wie eine Gebetsmühle, und außer juristisch geschulten Kollegen keiner ein Wort verstand, holte er kurz Luft. Um im nächsten Augenblick die passende Antwort zu liefern, gegliedert in Gesetze, Verordnungen und Paragraphen. Er musste ein Streitgespräch nicht scheuen und kannte sich in seinem Metier aus.
Manchmal verbiss er sich in einen Fall wie ein Pitbull in eine Schweinshaxe. Um nichts in der Welt konnte man ihn dann von der Spur abbringen, bis er die Schuldigen gefunden hatte. Er stand einer Einsatztruppe vor, die untereinander eine Kameradschaft pflegte, die weit über das Berufliche hinausging. Sie waren einander so nahe, da kam kein Haar dazwischen. Harry beneidete Walo manchmal um deren Loyalität und auch sonst fand er ihn ganz okay.
»Drück deinen Glimmstängel aus, oder hau ab! Du qualmst mir das ganze Büro voll!«, knurrte er.
»Oh, sorry!« Betroffen verschwand Kranz um die Ecke und drückte die Zigarette aus.
6.
In seinem Büro in der Staatsanwaltschaft hatte sich Harry erneut in die Arbeit vertieft und die Gedanken in unverfänglichere Bahnen gelenkt. Fälle rekonstruieren, Opfer befragen, Täter verhören: Das war seine Welt. Mit Verve las er sich durch die langfädigen Protokolle, entlockte der nüchternen Faktenlage wichtige Einzelheiten und formulierte daraus die Anklageschrift zu einem leidenschaftlichen Beziehungsdrama, oder einem eiskalten Auftragsmord oder einer bedauernswerten Missbrauchsaffäre. Sein Verantwortungsbereich umfasste bis zu einhundert Fälle, mit unterschiedlicher Dringlichkeit, Tempi und Umfang.
Harry fühlte sich berufen, ein mitleidloser, aber fairer Strafverfolger zu sein. Mit sechsunddreißig Jahre war er jünger als seine Kollegen und wies eine eindrückliche Aufklärungsquote auf. Beseelt setzte er sich für eine gerechtere Welt ein und war überzeugt, mit seinem Einsatz einen Unterschied zu machen, auch wenn er dabei zuweilen über das Ziel hinausschoss. Manchmal fühlte er sich so unverstanden wie Supermann, der die Menschheit vor dem Chaos bewahren wollte. Seine kompromisslose Art wurde nicht von allen geschätzt und war ein Minuspunkt auf der Beliebtheitsskala, mit dem er leben konnte. Seiner Meinung nach ließen sich Verbrecher durchaus von harten Strafen abschrecken und vermieden es, rückfällig zu werden. Er übernahm die Drecksarbeit für all die Warmwasserduscher oder Kuschelpädagogen, die zu schnell Nachsicht walten ließen. Jeder Angeklagte reagierte anders auf sein Urteil. Es gab die einen, die es teilnahmslos zur Kenntnis nahmen und andere, denen es den Willen zum Weiterleben nahm und sich selbst töten wollten.
In diesem Spannungsfeld zu arbeiten, war nichts für Leute mit schwachen Nerven. Harry hatte gelernt, eine Grenze zu ziehen zwischen seiner Arbeit, und was er an sich heranließ. Trotzdem gab es Fälle wie der von dem Pädophilen, der ein kleines Mädchen, nachdem er es missbraucht hatte, umbrachte und damit prahlte. Da suchte er tief in seinem Innern nach Kraft, um fair zu bleiben. Den herzzerreißenden, schmerzerfüllten Schrei der Kindsmutter, als man es ihr mitteilte, hatte ihn noch lange verfolgt. Er glaubte an das Rechtssystem, das er vertritt. Ihn ärgerte es, wenn ein offensichtlich schuldiger Gauner straffrei ausging, weil er ihm sein Delikt nicht überzeugend genug nachweisen konnte.
Er besaß von Klein an einen ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit. Es war ihm sehr wichtig, dafür zu sorgen, dass sie jedem zu Teil wurde. Nicht so, wie seinem Großvater der als Betrüger verurteilt worden war, und dem deshalb vom Staat sein gesamtes Vermögen beschlagnahmt wurde. Die Familie von Harrys Mutter wurde aus der stattlichen Villa geworfen. Von einem Tag auf den anderen standen sie ohne ihren Ernährer da und mussten mit einer winzigen Sozialwohnung vorliebnehmen nehmen. Drüber waren sie zeitlebens nie richtig hinweggekommen. Erst viele Jahre später, gestand sein ehemaliger Geschäftspartner, den Betrug auf den Großvater geschoben zu haben, und entlastete ihn damit. Doch zu spät, er war längst an gebrochenem Herzen gestorben.
Das war einer der Gründe, wenn nicht sogar der wichtigste, weshalb Harry später Rechtswissenschaften studierte. Danach nahm er eine Stelle in einer altehrwürdigen Anwaltspraxis an und machte nebenher seinen Doktor. Jung und ohne sich über die Folgen Gedanken zu machen, ließ er sich auf eine Affäre mit seiner Vorgesetzten ein. Als diese aufflog, wurde er geschasst und damit endete sein Traum von einer steilen Karriere als Anwalt. Sein Mentor hatte ihn zum Abschied gewarnt, er habe schon manchen erfolgversprechenden Juristen wegen einer Frauengeschichte scheitern sehen. Irritiert über die Konsequenzen und mit arg zerzaustem Selbstbewusstsein, wechselte er vom Dienstleistungssektor zur öffentlichen Hand, der Staatsanwaltschaft.
Hier schaffte er sich bald einen Namen als Machertyp, der unbequem und streng war. Die einen neideten ihm den erfolgreichen Aufstieg, die anderen stuften ihn als Militärschädel ein. Wie auch immer man zu ihm stand, er war nicht zu übersehen, zu dominant war sein Auftreten. Er mischte sich ungefragt in Diskussionen ein und plagte seine Kollegen gerne mit Spitzfindigkeiten, bis sie resigniert die Augen verdrehten. Seine Weltanschauung war nicht die ihre, das störte die anderen mehr als ihn. Für ihn zählte die persönliche Leistung des einzelnen, dabei war es ihm wichtig, nicht zum Außenseiter gestempelt zu werden. Bloß beim abgebrühten Galgenhumor der Berufskollegen zog er den Strich, dem konnte er nichts abgewinnen.
Ecken und Kanten des Arbeitsauftrages hatte er bisher gemeistert. Nur selten gab es Tage, da würde er am liebsten aus seiner Haut fahren und fühlte sich wie ein Elefant im Porzellanladen. Heute Morgen, zum Beispiel, hatte er nur etwas nachlässig die Bürotür zugeworfen, schon knirschte es im Gebälk. Die Mitarbeitenden bekamen einen Schreck und er konnte auf ihren Gesichtern lesen, dass sie befürchteten, er würde das Büro in Kleinholz verwandeln. Er war nicht ungewöhnlich groß mit Eins zweiundneunzig, doch mit seinem durchtrainierten Körper setzte er sich optisch von den andern ab. Das verdankte er den Schwimmstunden, in denen er meditativ und im Einklang mit dem Element zügig durchs Wasser glitt. Oder beim Football im Club, wo er den Gegner beherzt von den Füßen rammen konnte. Beim Spiel konnte er richtig Dampf ablassen und das tat gut, besonders seiner Psychohygiene. Er war überzeugt, ohne den sportlichen Ausgleich in der Freizeit, wäre er