Bis heute gehen mir Bilder von Kängurus nach, bei Tag und bei Nacht. Wandere ich durch die Natur, bin ich als Künstlerin so in meine Vorstellungswelten versunken, dass mich nicht selten die Lust überkommt, meiner Phantasie in der Art eines Marc Chagall freien Lauf zu lassen; Kängurus und Esel im Himmel, Löwen in einem schneebedeckten Garten und viele andere freie Gestaltungen tauchen dann vor meinem inneren Auge auf. Atme ich Wald- oder Wiesendüfte ein, vor allem in Verbindung mit fuchsrotem Herbstlaub, steigt mir noch heute plötzlich der Geruch von Kängurus in die Nase, was bewirkt, dass ein wundersam elektrisierendes Gefühl meinen Körper durchströmt. Wie ich herausgefunden habe, entsteht dieser eigentümliche Effekt wesentlich durch ein Duftgemisch von frischem Laub und Humus.
Stets war meine seelische Not gross, wenn meine Eltern oder manche meiner Freunde mich bedrängten, um meine innigen Gefühle für die Kängurus zu stören oder in eine andere Richtung zu lenken. Wie hätte ich ein Leben ohne diese Tiere ertragen können?! Die Beseitigung dieser Gefühle gliche der Entnahme eines wichtigen Elements, ohne das ich meine innere Balance verlöre. Und so geriet ich immer wieder in heftige psychische Turbulenzen, je nachdem, ob die Mitmenschen meiner Beziehung zu den Kängurus Verständnis oder Abneigung entgegenbrachten.
Um mich von allzu grossem seelischem Druck zu befreien, bedurfte es einer Stärkung meines Selbstwertgefühls. Und so sprach ich immer wieder, allen äusseren Hindernissen zum Trotz, ganz bewusst über meine Bedürfnisse und das, was mich bewegte. Am Entspanntesten ging es dann zu, wenn ich mit Mama allein diskutierte, was ich am allerliebsten vor dem Einschlafen tat. Manchmal jedoch verliefen auch diese Gespräche unbefriedigend. So versuchte mir meine Mama eines Abends einzureden, meine Freundinnen, darunter auch Gehörlose, bewiesen ihren Familien gegenüber mehr Pflichtgefühl und nähmen an deren Sorgen und Nöten grösseren Anteil als ich. Dann ergänzte sie lächelnd, für sie sei das Känguru nur mein Spielzeug! „Ich bin nicht weniger gewissenhaft als andere!“ rief ich wütend. – ,Schrei‘ doch nicht so…!“ Erschrocken fuhr meine Mama zurück. Mit Tränen in den Augen starrte ich sie einen Moment lang an. Dann sprach ich weiter, bis mir plötzlich etwas durch den Kopf schoss und ich sie bekümmert fragte, ob ich denn gegenüber Gleichaltrigen in meiner Entwicklung arg im Rückstand sei. „Nein, du bist sicher schon vorangekommen. Aber auf der anderen Seite bist Du noch immer ein grosser Kindskopf.“ Diese letzten Worte kränkten mich, denn ich fühlte mich im Grunde nicht ernst genommen.
Ein andermal diskutierte ich mit meiner Mama über berühmte Zeitgenossen und fragte sie, ob ich denn nicht mit Kängurus auch einmal berühmt werden könne. Sie verdrehte die Augen und meinte, das sei unmöglich, denn diese Tiere seien nur langweilig. Wohl aber könnte ich mir einen Namen machen, wenn ich behinderten Menschen hülfe, so dass viele Leute über mich redeten. Aber mit Kängurus – nein! – das werde nicht gehen! Dennoch blieb ich fest bei meinen Wünschen, unter denen einer sich immer mehr verfestigte. Wochen danach sprach ich mit Mama über meine Absicht Schriftstellerin zu werden, und dass ich bereit sei, neben der Ausübung meines erlernten Berufes jede freie Minute fürs Schreiben zu opfern. Mein Thema wären – natürlich – Kängurus! Erstaunt und liebevoll lächelnd äusserte Mama, ich sei genau wie Anne Frank, die ja auch vom Weltruhm träumte. Das ermutigte mich.
Zu meinen Vertrauenspersonen für besondere Aussprachen zählten Tante und einige verbliebene Freundinnen. Doch mir war bewusst, dass ich noch mehr Menschen benötigte, die meine Beziehung zu den Kängurus ernsthaft und für lange Zeit mit mir teilen konnten, und ich gewann eine hörende Freundin, Brigitte, die ich beim Skulpturenzeichnen in der Berufsschule kennen gelernt hatte. Mit ihr kann ich auch heute noch von Kängurus und Australien schwärmen. Sie arbeitete gut ein Jahr lang im Basler Zoo bei den Vögeln, bildete sich dann zur Musiklehrerin aus und gab später als Geigerin auch verschiedentlich Konzerte. Aufgrund einiger Karikaturen Geige spielender Kängurus, auf die ich in den Zeitungen stiess, nannte ich sie „Wallaby“ (eine kleinere Känguruart), womit ich eine treue und schalkhafte „Gesellin“ meinte.
Ein „Befreier“ tritt auf den Plan
Während einer Autofahrt teilte mir Mama eine interessante Neuigkeit mit. Mein Onkel in Tel Aviv hatte zufälligerweise die Bekanntschaft eines gewissen Simon gemacht, eines jungen Mannes, der gleichfalls gehörlos war. Als ein vom Militär geschätzter Mechaniker hatte er sich auf die Konstruktion und den Bau von Maschinengewehren spezialisiert. Mein Onkel hatte ihn gebeten, brieflichen Kontakt mit mir aufzunehmen.
Nachhause zurückgekehrt, sah ich, dass ein Kuvert von Simon mich bereits auf dem Korridortisch erwartete. Ohne sonderliche Freude öffnete ich es und las: „…ich weiss nicht, wie Du bist, aber schreib alles von Deinem Herzen, wenn Du grosse Lust hast. Ich bin ein Mann von 26 Jahren mit Humor und Lebensfreude…“
Ich war ein junges Mädchen von gerade einmal 16 Jahren, und die Gefühle, die mich nun überkamen, widersprachen einander auf heftige Weise. Die dominierende Empfindung aber war, dass ich mich auf einen neuen Lebensabschnitt fern der Kängurus vorbereiten müsse.
Ich korrespondierte nun regelmässig mit Simon, schickte ihm Lebensmittelpakete (damals waren Esswaren in Israel knapp und teuer) und erfüllte seine Wünsche nach Veloersatzteilen. All dies tat ich folgsam, ohne dass ich ein Aufflammen von Verliebtheit an mir bemerken konnte. Ich fühlte deutlich, dass er mit meinen Interessen nichts gemein hatte. Auch ein Foto, das er mir schickte, konnte meine Sympathie nicht übermässig wecken. Umgekehrt schienen meine Fotos auf ihn anziehend zu wirken, und er nannte mich hübsch. Mitunter wurde ich von Mama gedrängt, Simon statt über Kängurus mehr von Dingen des Alltagslebens zu berichten, mit denen er etwas anfangen könne. Fast keiner meiner Briefe ging auf die Post, ohne dass Mama ihn durchgelesen hatte. Alles wurde kontrolliert, nicht nur um des korrekten sprachlichen Ausdrucks willen, sondern in erster Linie wegen der Ansichten, die ich vertrat und die Simon nicht verstehen oder nur als lächerlich hätte empfinden können. Durch diese ,Zensurmassnahmen‘ fühlte ich mich extrem eingeschränkt und in das Arrangement einer ungewollten persönlichen Beziehung gedrängt.
Gut vier Jahre später, ich war noch nicht 20, hatte mein Ringen um Unabhängigkeit und Eigenständigkeit im Denken und Handeln die Form eines regelrechten Kampfes angenommen. Oft geriet ich mit Mama so in Streit, dass ich mitunter sogar Angst vor mir selber bekam. Einmal, ich fühlte mich vorübergehend von einer gewissen Zuneigung für Simon erwärmt, fragte ich Mama, wie es denn praktisch zu einer Heirat kommen könne. Sie erwiderte, dass er mich fragen werde, ob ich seine Frau werden wolle. Mir wurde angst und bange bei dem Gedanken, was Mama alles unternehmen könnte, um für mich die Gründung einer eigenen Familie anzubahnen. Alles, was ich wollte, war, dass dies meine eigene Angelegenheit blieb. Keinesfalls wollte ich mich durch die Einmischung Anderer in eine unglückliche Ehe drängen lassen. Obwohl ich manchmal ein starkes Verlangen nach traulicher Gemeinsamkeit verspürte, war es für mich jedoch Voraussetzung, dass sich jemand für ein harmonisches Eheleben fand und die künftige Verbindung auf Anteilnahme und gegenseitigem Respekt beruhte.
Andererseits gewann ich durch Simons Berichte aus Israel eine plastische Vorstellung vom „Gelobten Land“, das ich sehr liebte. Das, was er über den Eroberungskrieg von 1948 schrieb, ging mir sehr zu Herzen.
Zwischendurch befreundete ich mich in der Berufsschule mit einem hörenden Grafikschüler aus Ungarn. In den Schulpausen trafen wir uns häufig, wobei ich mich immer sehr freute, wenn ich von ihm zuerst begrüsst wurde. Ich musste mich zurückhalten, um meine Gefühle für ihn nicht zu deutlich zu zeigen. Unsere Kommunikation vollzog sich mündlich in beiderseitigem Verstehen, betraf vor allem unser Schulleben und war gewürzt mit Spässen. Er sprach auch über seine Interessen und das Schicksal seines politisch unterdrückten Heimatlandes. Daran nahm ich voll und ganz Anteil und lernte viel Neues. Seine Sympathie für meine Beziehung zu den Kängurus war für mich nicht so wichtig wie die Harmonie zwischen uns, die ich beseligend in mir verspürte.
Daheim erzählte ich von dieser schönen Begegnung, erntete jedoch nicht mehr als ein Schmunzeln. Meine Eltern waren nämlich der Ansicht, eine Gehörlose solle keinen Hörenden heiraten. Zudem sei eine interkonfessionelle Ehe zwischen Juden und Christen nicht ohne Probleme. Nach meinem Abschluss in der Berufschule verlor