Mein Auto steht schon in der Garage, sagte Albrecht. Macht es Ihnen etwas aus, wenn wir den Zwerg von meiner Frau nehmen? Dabei zeigte er auf einen winzigen giftgrünen Fiat. Natürlich hatte ich keine Einwände. Wir falteten uns beide in das Auto, und ich überlegte, wie wohl Waltraud ihre zahlreichen Pfunde darin unterbrachte. Albrecht startete.
Während der Fahrt erzählte er dies und das; er hatte eine sehr humorvolle Art. Weil er Jurist war und weil er so anders war als Waltraud, fasste ich nach einem Weilchen Mut und berichtete von den Schwierigkeiten meines Studium. Die Fünf verschwieg ich lieber, denn man konnte nicht wissen, was meine Mutter während meiner Abwesenheit von sich geben würde. Sicher verwandelte sie mich im schmiedelschen Wohnzimmer gerade in ein juristisches Wunderkind. Albrecht hörte sich meine Nöte in aller Ruhe an, lachte dann, aber kein überhebliches, sondern ein sehr verständnisvolles Lachen. Lassen Sie sich deshalb bloß keine grauen Haare wachsen, meinte er. Ich glaube, diese Schwierigkeiten hat außer einem Genie jeder, oder sind Sie vielleicht ein Genie? Ich lachte auch. Dann wurde er ernsthaft und zählte seine Anfangsprobleme auf. Es klang vertraut; ich war erleichtert, dass es mir nicht schlechter ging als anderen.
Wir bogen in ein anderes Wohngebiet ein. Es unterschied sich kaum von dem, wo Waltraud und Albrecht wohnten. Zwar waren die einzelnen Häuser etwas neuer, aber ansonsten genauso stereotyp. So, sagte Albrecht und bremste vor einer dieser austauschbaren Behausungen, hier sind wir auch schon; Gisela und Klaus wohnen im Erdgeschoss. Dann mal viel Spaß! Er hupte, ich stieg aus. Wieder ging die Haustür auf, ohne dass ich geklingelt hatte, wieder eine Begrüßung und die Garderobenprozedur im Flur. Gisela musterte mich genauso, wie es zuvor ihre Mutter getan hatte. Ich hatte das merkwürdige Gefühl, in einem Film mitzuspielen, den ich irgendwann schon einmal gesehen haben musste. Klaus beendete die ungemütliche Situation, indem er vorschlug, das nähere Kennenlernen lieber ins Wohnzimmer zu verlegen. Wieder betrat ich ein fremdes Wohnzimmer, aber dieses Mal stand schon jemand dort, nämlich der angekündigte nette junge Mann.
Mein Name ist Norbert Steinhoff, sagte er. Ich sah einen blauen Anzug, so auffallend blau, dass ich nichts anderes wahrnahm. Kornblumen, dachte ich, diese Farbe haben nur Kornblumen. Meine Mutter würde beim Anblick dieser Intensität bestimmt nicht mehr ohne Weiteres von einem netten jungen Mann reden. Nette junge Männer tragen graue Anzüge oder dunkelblaue mit dezenten Krawatten. Ich blickte auf einen bunten Schlips und lächelte erfreut. Der blaue Mann war nicht sehr groß; seine Augen waren nicht einmal ganz in gleicher Höhe mit meinen. Er wirkte stämmig. Wenngleich man ihn nicht als dick bezeichnen konnte, schien er schwer zu sein. Als er mir die Hand drückte, schmerzte es. Ich reagierte mit fast ebenso kräftigem Gegendruck.
Wir setzten uns. Klaus bat Norbert, mich ein Weilchen allein zu unterhalten. Er wollte mit Gisela in der Küche das Abendessen richten. Norbert platzierte sich neben mich auf das Sofa. Ich sah ihn mir genauer an. Er hatte ein weiches Gesicht; kleine Nase, empfindsamer Mund, wenig Kinn. Wäre die hohe Stirn nicht gewesen, hätte man es als kindlich bezeichnen können. Seine Haare waren hellblond und sehr dünn. Wahrscheinlich würde er in spätestens fünf Jahren eine Glatze haben. Wenn ein Mann absolut nicht mein Typ war, dann war es Norbert. Nicht dass ich feste Vorstellungen von einem Traummann gehabt hätte, aber größer als ich und schlank musste er schon sein, markante Züge haben und natürlich volles Haar. Norbert betrachtete mich nachdenklich. Ich senkte den Blick. Hoffentlich konnte er keine Gedanken lesen. Er hatte sehr sonderbare Augen. Sie waren ungewöhnlich hell und klar und blickten mit einer Offenheit in die Welt, als hätten sie noch nie einen schlechten Gedanken verbergen müssen. Schön konnte man sie eigentlich nicht nennen, aber entwaffnend freundlich. Sie schauten nicht nur so, sie waren durch und durch freundlich und überzogen das ganze Gesicht mit ihrer Freundlichkeit. Ich verglich sie in Gedanken mit meinen Augen. Groß und blau, hatten sie mir schon so viele Komplimente eingebracht, dass ich inzwischen selbst davon überzeugt war, sie seien schön. Ich sah sie mir gern im Spiegel an. Manchmal spielte ich mit ihrem Ausdruck. Ich ließ sie freundlich wirken oder ärgerlich; ich beherrschte alle Nuancen zwischen strahlenden und vernichtenden Blicken. Du kannst einen so kalt ansehen, hatte meine Mutter einmal gesagt, dass man friert. Ich genoss diese Fähigkeit, mit den Augen streicheln oder schlagen zu können, und machte häufig davon Gebrauch, indem ich nichts sagte, sondern nur schaute. Besonders gegenüber Männern waren diese Argumente sehr wirkungsvoll.
Erneut betrachtete ich mir Norberts Augen und versuchte, Hass oder Wut hineinzudenken. Ich probierte es mit Strenge und Empörung. Es war nicht vorstellbar; diese Augen blieben hartnäckig freundlich.
Während ich meinen Gedanken nachhing, hörte ich ihm halb aufmerksam zu. Er stellte sich etwas näher vor, erzählte, dass er in Mainz Medizin studiert und soeben mit dem Famulieren begonnen hätte. Seine Stimme klang dünn und etwas belegt, beinahe schon heiser. Manchmal strahlen heisere Männerstimmen einen fast erotischen Reiz aus; bei Norbert ließ die Heiserkeit eher an eine Erkältung denken. Ich finde Stimmen nicht unwichtig. Klangvoll und tief können sie mich sehr faszinieren und sogar in ihren Bann ziehen. Norberts Stimme klang in erster Linie unmännlich. Außerdem fiel mir auf, dass sich norddeutscher und rheinischer Akzent bei ihm mischten. Als ich nach dem Grund fragte, antwortete er, er sei ein gebürtiger Holsteiner, den es an die Mosel verschlagen hatte. Seine Familie wohnte schon seit zehn Jahren dort, wobei die Familie nur aus den Eltern und ihm selbst bestand. Noch so ein verwöhntes Einzelkind, sagte ich. Er lachte. Mit einem Eifer, der mich unangenehm berührte, führte er mich in seine Familienverhältnisse ein. Ich bin eine eher distanzierte Natur; vor schnellen Vertraulichkeiten schrecke ich zurück. Den Mann neben mir auf dem Sofa kannte ich seit ein paar Minuten. Wie konnte er gleich seine ganze Lebensgeschichte vor mir ausbreiten, die zudem genauso uninteressant war wie er selbst? Ich wünschte mir, dass Gisela und Klaus endlich ihre Küchenvorbereitungen beendeten und sich wieder zu uns gesellten. Norbert fuhr unbeirrt fort, von sich zu berichten.
Dabei bemerkte ich, dass er - es war wohl auf den rheinischen Spracheinfluss zurückzuführen - das Sch wie ein Ch aussprach. Besonders verfremdend wirkte sich diese Eigenart auf das Wort "Menschen" aus, das dadurch zu "Männchen" wurde. Obwohl ich den Gleichklang inhaltlich durchaus sinnvoll fand, störte er mich akustisch, reizte mich geradezu. Ich dachte, sonderbar, dass ausgerechnet dieser Mensch, der auf mich wie die personifizierte Freundlichkeit wirkt, ungewollt solche Zynismen von sich gibt. Nein, korrigierte ich mich im Stillen, ungewollten Zynismus kann es nicht geben, denn er lebt gerade von seiner bösen Absicht. Nicht die falsche Aussprache war zynisch, sondern meine Interpretation.
Norbert unterstrich seine Worte mit den Händen. Es waren kurze, kräftige Hände mit eckigen Nägeln und nicht sehr gepflegter Nagelhaut. Ob er später Chirurg werden wollte? Die beiden Chirurgen, die ich kannte, hatten auch solche Hände. Die feingliedrige, elegante Chirurgenhand existiert wahrscheinlich nur in Arztromanen. An Norberts rechtem Ringfinger steckte ein großer Herrenring; golden und protzig prangten darauf seine Initialen. Im Bedarfsfall würde er sicherlich auch als Schlagring gute Dienste tun. Der Ring war ebenso unmöglich wie der Anzug und die Krawatte. Eigentlich war der ganze Norbert unmöglich, sah man einmal von seinen Augen ab, den freundlichen Augen. Ich wunderte mich nicht mehr, warum er Waltraud gut gefiel. Im Gegenteil, er hätte ihr Sohn sein können mit seiner vollendeten Spießigkeit. Wahrscheinlich stammte er aus kleinen Verhältnissen - der einzige Sohn sollte es natürlich einmal besser haben - und studierte unter finanziellen Opfern seiner Eltern Medizin. Vielleicht war der scheußliche Ring das Examensgeschenk? Wenn ich zu Hause bin, unterbrach Norbert meinen regen Gedankenfluss, sitze ich am liebsten in der Bibliothek und lese oder schaue auf die Mosel. Das Haus meiner Eltern liegt etwas oberhalb, weißt du, und man kann deshalb an diesem Platz so schön träumen. Bibliothek, dachte ich, Haus mit Moselblick, das klang eigentlich nicht nach Ärmlichkeit. Vielleicht war Norberts Vater ein neureicher Bauunternehmer. In der Bibliothek standen wahrscheinlich repräsentative Klassikerausgaben, am laufenden Meter gekauft, und dahinter versteckten sich die Pornoheftchen. Immerhin war neureicher Mief besser als kleinbürgerlicher.
Nicht dass ich Geld als allein selig machend betrachtete, aber es schien doch gewisse Garantien für eine angenehme Lebensweise mit sich zu bringen. Ich wäre nicht soweit gegangen zu behaupten, dass Geld glücklich macht, aber es machte wohl weniger unglücklich, und vielleicht